Andrea Winklbauer,
Die Welt mit den Augen eines anderen sehen
Nationale Filmfestivals wie die Diagonale lassen zumindest einmal im Jahr einen Mikro-Blick auf das Filmschaffen eines Landes zu – mit all seinen Themen und Facetten, aber auch Gemeinsamkeiten. Dass dies auch 2015 wieder ein Erlebnis von einiger Größe war, ist nicht nur den vielen Filmschaffenden zu verdanken, sondern auch der scheidenden Festivalleiterin Barbara Pichler, der das Kunststück gelungen ist, eine Auswahl zu treffen, auf die man sich gefreut hat und die in Erinnerung bleibt. Nach sieben Festivals zieht sie sich auf eigenen Wunsch zurück. Es folgt ihr ein Intendanten-Duo nach: Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, die bisherigen Leiter des Nachwuchs-Medienfestivals Youki in Wels.
Eröffnet wurde das Filmfestival mit "Superwelt“, dem surreal anmutenden zweiten Spielfilm des als Schauspieler bekannten gewordenen Regisseurs Karl Markovics. Darin hört eine verheiratete Supermarkt-Angestellte in der niederösterreichischen Provinz plötzlich die Stimme Gottes, was zu allerlei Verwurstelungen im Alltag führt, gegen die ihr Ehemann bodenständig ankämpft. Und natürlich wurden auch dieses Jahr wieder Preise vergeben: Veronika Franz und Severin Fiala haben mit ihrem raffinierten Horrorfilm "Ich seh Ich seh" den mit 21.000,- Euro dotierten Großen Diagonale-Preis in der Sparte Spielfilm gewonnen. Den ebenso hoch dotierten Großen Dokumentarfilm-Preis erhielt Nikolaus Geyrhalter für "Über die Jahre", eine beeindruckende und nahe gehende Langzeitbeobachtung von Angestellten eines Textilproduzenten in einer strukturschwachen Region im Norden Niederösterreichs – kurz vor der Firmenpleite, kurz danach und noch einige Jahre lang bis heute. Die mit je 3.000,- Euro dotierten Schauspielpreise gingen an Ulrike Beimpold, die Hauptdarstellerin von Karl Markovics "Superwelt", und Murathan Muslu für seine Darstellung in "Risse im Beton". Alle Preise siehe hier
Ein inoffizielles Jahresthema des österreichischen Films war der Zwischenraum zwischen äußerer Realität und dem Subjektiven, das sehr stark werden kann. So spielte etwa Wolfgang Muhr in seinem neuen Langfilm "Centaurus“ damit: Ein Wochenend-Urlaub im Wienerwald wird für seine Hauptfigur zum – für seine Begleiter unsichtbaren – Horrortrip. Auch der neue Film "HomeSick“ von Jakob M. Erwa handelt von der Frage der Grenze zwischen Realität und Imagination: Eine junge Cellistin fühlt sich in ihrer neuen Wohnung von einer Nachbarin terrorisiert, doch ihr Lebensgefährte bekommt davon nichts mit. Sehr fein ziseliert Erwa mit seinen beiden Hauptdarstellerinnen Esther Maria Pietsch und Tatja Seibt den sich anbahnenden Konflikt (?) heraus und spitzt zu, was (un)vermeidbar scheint. Der Schluss liefert ein Faktum und doch bleibt vieles ungewiss. Ganz direkt und sehr witzig geht Mara Mattuschka an das Thema heran. Ihr Spielfilm "Stimmen“ handelt von dem Counter-Tenor Alex Gottfarb, der quasi in einer Wohngemeinschaft mit seinen verschiedenen Persönlichkeiten lebt: dem schüchternen alter ego Alexander, dem Kind Xandi, der lebenslustigen jungen Frau Sandra und dem Halbstarken Lexi. Frühere Filme von Mara Mattuschka zu kennen steigert das Vergnügen, ist aber kein Muss. Und Michel Gondry winkt aus der Ferne.
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