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An den Rändern der Festung Europa

Unweit vom Megatourismus in Mallorca und Alicante läuft die nomadisierende Biennale Manifesta gegenwärtig in der südspanischen Region Murcia und thematisiert den Dialog mit Nordafrika. Ein Höhepunkt im internationalen Wettstreit der Biennalen. Angetreten ist die Manifesta mit dem Versprechen der „Auslotung der Ränder Europas“, was die Erweiterung des Diskurses um Migration und die rigiden Grenzziehungen der Europäischen Union um die Nord-Süd Dimension meint. In den Städten Murcia und Cartagena in Südspanien hat dies seine Logik, weil hier und an der nahen Insel Mallorca zentrale Migrationsrouten über das Mittelmeer aus den Ländern Nord- und Westafrikas zusammen laufen. In ihrer Umsetzung ist die Manifesta 8 nun deshalb so sympathisch, weil ein Pluralismus sensibel austariert Positionen verfolgt wurde. Die Teams der KuratorInnen von „tranzit.org“, der „Chamber of Public Secrets“ (CPS) und des ägyptischen „Alexendria Contemporary Arts Forum“ (ACAF) eröffnen zwar politische Leseweisen, doch selbst wo die konkrete Auseinandersetzung mit sozialen Aspekten aufgenommen wurde, wirken die einzelnen Ausstellungssituationen aufgelockert. Die Vorurteile und Konflikte unter der idyllischen Oberfläche der Austragungsorte verdeutlicht eine Videoinstallation mit inszenierten Interviews auf der Straße von Thierry Geoffroy (F / DK). Teils penetrant auftretend mit Tropenhelm und Safari-Uniform ausgerüstet provoziert der "Artist Colonialist“ auf der Straße intelligente small-talk Situationen zwischen alteingesessenen Bewohnern und verschiedensten Menschen mit Migrationshintergrund, auf die per Sozialneid nach unten sämtliche aktuellen Probleme projiziert werden. Zu sehen ist Geoffroy’s aktionistisches „work in progress“ im stillgelegten und abgewirtschafteten San Anton Prison von Cartagena. Wie sich zeigt – neben dem Gebäude des alten Postamts in Murcia – einer der attraktivsten Ausstellungsorte für das lokale Publikum, weil die lokale Öffentlichkeit Gelegenheit hat, sonst versperrte Gebäude von innen kennen zu lernen. Hier zu sehen auch ein dicht geschnittenes Video der spanische Filmerin Maria Ruido, in dem sie die Geschichte der Arbeitsmigration von Südspanien nach Deutschland in den 1970er Jahren an Hand der Biografie ihrer Eltern aufarbeitet. Der Traum vom neuen Leben mündet in Fließbandarbeit und Geld nach Hause schicken. Aus mitteleuropäischer Sicht interessant, weil hier der öffentliche Diskurs aktuell lediglich auf die Feindschaft gegen den Islam fixiert ist. Den formalen Gegenpol bildet eine raumfüllende Multikanal Videoinstallation mit gleichzeitiger Filmgroßprojektion des in Berlin lebenden Tirolers David Rych in Murcia im Kunstmuseum MUBAM. Rych arbeitete mit einer Gruppe von Jugendlichen aus einem Erziehungsheim im Dialog mit sechs Langzeit-Gefängnisinsassen im Gefängnis Castellón. Während der Hauptfilm, in dem die Gefangenen als Gruppe in Episoden verschiedene Themen, wie etwa ihre Wahrnehmung des Lebens draußen reflektieren, als Großprojektion gezeigt wird, laufen auf abgeschrägt positionierten Videoschirmen am Boden Einzelninterviews, wobei durch die Anordnung der Monitore noch einmal die Situation der Vereinzelung in der Gruppe aufgenommen wird. In konzentrierter Nahaufnahme entstand in Interviewform ein Soziogramm des Alltags der Delinquenten, deren Nachdenken über ihre Fehler, Chancen und Perspektiven und deren Aussichten auf ein Leben danach mit zum Teil sechs bis sieben Berufsausbildungen im Gefängnis, die jedoch alles andere als eine Jobgarantie draußen bedeuten. Eines der besten dokumentarischen Projekte der letzten Zeit, weil es unterschiedliche Perspektiven anbietet und dramaturgisch perfekt wirkt. Doch ist diese Manifesta keineswegs als Druckkammer des Sozialpolitischen konzipiert, und naturgemäß nur anhand einiger Schlaglichter rezensierbar. Ein tendenziell pluralistisches Konzept mit punktuellen Rückbindungen an den afrikanischen Kontinent entwarf das „tranzit.org“ Team, dem unter anderen Dora Hegy, Vit Havranek und Georg Schöllhammer angehören für die ehemaligen Gebäude der Artillerie in Murcia. Es scheint, als hätte genau dieses Team die Formulierung eindeutiger Statements bewusst umschifft, um einen Diskurs der Vielheiten zu eröffnen. Eine Verschneidung von Black-Culture und so etwas wie Afro-Futurism bringt ein in einem arte povera setting präsentierter Film des in Paris lebenden jungen Künstlers Neil Beloufa. In einem fast geisterhaften, mystisch dunklen Szenario aufgenommen in Mopti in Mali entwickeln die Protagonisten abstrakt formulierte Zukunftsphantasien mit literarisch utopischem Charakter. Noch gelöster und offener bearbeitet das Team des Alexendria Contemporary Arts Forum um Bassam el Baroni das Thema des kulturellen Transfers zwischen den Staaten Nordafrikas im ehemaligen Zentralpostamt von Murcia, wo beispielsweise der in London lebende Argentinier Pablo Bronstein Architekturzeichnungen ausstellt, in denen ironisierend der Imagetransfer zwischen islamischer und südspanischer Alltagskultur herausgearbeitet wird. Als Wahrzeichen Spaniens küsst ein Kamel einen Stier. Als Grossunternehmen der Gegenwartskunst an vierzehn Ausstellungsorten mit über hundert Künstlern lässt sich nun auch diese Manifesta ex equo neben der ganz anders konzipierten Istanbul Biennale im Spitzenfeld der europäischen Biennalen verorten.
Mehr Texte von Roland Schöny

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