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Keine Angst mehr

Auf einem Schwarzweißfoto von Anfang der 1980er Jahre sind einige Personen hinter einem Transparent mit der Aufschrift "no + miedo" zu sehen. Ein Spiel mit Wort und Zeichen, denn hier ist keinesfalls wörtlich "Nein und Angst" zu lesen. Das Additionssymbol bedeutet im Spanischen auch "mehr". Im Chile der Pinochet-Diktatur konnte die Aufforderung, keine Angst mehr zu haben, schon einige Sprengkraft entfalten. Vor sich her getragen wurde sie hier von der Künstlergruppe "Colectivo Acciones de Arte", die sich sinnreich CADA abkürzte - was so viel bedeutet wie "jede/r". Damit sind auch schon wesentliche Bezugspunkte der Geschichte konzeptueller Kunst aus Lateinamerika genannt. Semiotische Untersuchungen, Aktionen auf der Straße, Konfrontation mit der politischen Macht. Die Worte werden als politisches Werkzeug eingesetzt und die Sprengkraft ist bei Camnitzer wörtlich zu nehmen: Camnitzer, selbst einer der wichtigsten Konzeptkünstler Lateinamerikas und nicht Kunsthistoriker, scheut nicht davor zurück, die Geschichte der zeitgenössischen Kunst seit den späten 1950er Jahren direkt an die Entwicklung militanter sozialer Bewegungen zu knüpfen: Die Stadtguerillabewegung Tupamaros in Uruguay ist ihm ein eigenes Kapitel wert. Sie sei zwar keine künstlerische Formation gewesen, habe sich aber weitest möglicht dem Kunstfeld angenähert. So wie andererseits die Gruppe Tucumán Arde aus Argentinien ihre künstlerische Praxis so weit wie nur denkbar dem politischen Kampf angeglichen habe. Nachdem sie auf der vergangenen Documenta vor allem hinsichtlich ihrer formalen Qualitäten präsentiert wurden, ist es nur als Verdienst zu werten, künstlerische Projekte wie Tucumán Arde oder auch einzelne Positionen wie die von Lotty Rosenfeld, Mitglied der CADA-Gruppe, wieder in ein angemessen politisches Licht zu setzen. Neben der explizit politischen Ausrichtung ist auch der starke Fokus, den Camnitzer auf den Bildungsaspekt der Kunst setzt, ungewöhnlich. So führt er zu Beginn in das Werk des venezolanischen Philosophen Simón Rodríguez (1769-1854) ein. Besonders ein Gedanke des Humanisten und Lehrers von Simón Bolívar (1783-1830), dem "Befreier", hat es Camnitzer angetan: Sich mit den Dingen zu beschäftigen, sei die erste Aufgabe der Erziehung. Mit denen, die sie besitzen, die zweite. Ein guter Ausgangspunkt für eine materialistische Kunstgeschichte ist das alle mal. Ob sie den verborgenen Kern der Konzeptkunst ausmacht oder doch die Dematerialisierung des Kunstwerks, darüber kann nun weiter und ohne Angst verhandelt werden. Luis Camnitzer Conceptualism in Latin American Art: Didactics of Liberation Austin, TX 2007 (Texas University Press) 347 S., 21,50 Euro ISBN-13: 978-0292716292
Mehr Texte von Jens Kastner

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