Werbung
,

Bitterer Charme

Die Russendisko im Kaffee Burger - ein Szeneort in Mitte - ist die Inspirationsquelle des Autors, dem Initiator eben dieser in Berlin berühmt gewordenen Musikveranstaltung. Unter deren Namen sind mehrere Kurzgeschichten versammelt, die alle in Berlin, meist auf dem Prenzlauer Berg, wo der Autor Wladimir Kaminer mit seiner Familie lebt, lokalisiert sind. Die handelnden Personen stammen aus der Lebensumwelt des Autors: sie gehören zur Kunstszene, in der sich der 1967 in Moskau geborene und dort Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut studierende zugezogene Berliner bewegt, oder zu seinem Freundeskreis oder zur Szene des Prenzlauer Bergs. Die Konzentration auf das Milieu der Zugereisten und deren Versuche, im Kunstbereich trotz der sozialen Benachteiligung erfolgreich zu sein, die durch den Alltag zum Scheitern verurteilt sind, macht den Charme und die bittere Erkenntnis des Erzählbandes aus. So wird von einem Maler erzählt, der seiner Liebe zu einem Mann dadurch Ausdruck verleiht, indem er dessen Porträt in all seinen gemalten Raumausstattungen von Lokalen auf dem Prenzlauer Berg und in Mitte verewigt, so lange, bis der Porträtierte ihn bittet, in dieser Region ihn nicht mehr darzustellen. In einer anderen Geschichte versucht der russische Bildhauer Sergej immer wieder, mit seinem Lebenswerk - eine Form, zwischen Muschel und Vagina - bekannt zu werden. Nachdem alle Einreichungen für Kunst im öffentlichen Raum gescheitert sind, unternehmen Kaminer und der Bildhauer den Versuch, alternative Ausstellungsflächen zu erschließen und fahren zu einer Erotikmesse nach Hamburg. Schließlich findet der Autor nach Jahren das Werk auf einem Spielplatz um die Ecke wieder. Bei den Dreharbeiten zum opulenten Film "In den Schützengräben von Stalingrad" gibt es für die in Berlin lebenden Russen, ob jung und alt, kurzfristig Beschäftigung. Eigentlich sind alle in Berlin lebende Russen Künstler, für die das Arbeitsamt Jobs als Schauspieler vermittle, konstatiert der Autor. So lakonisch, wie diese Feststellung klingt, ist sie auch ein sarkastischer Kommentar auf den Kunstbetrieb, die Lebenswirklichkeit und die Vorstellungen einer globalen, flexiblen Gesellschaft. Das Buch beginnt mit der Einreise von Wladimir Kaminer - im Klappentext steht das Jahr 1990. Er berichtet auch von den Aufnahmestationen in Marzahn und Lichtenberg. Doch geändert hat sich von seiner schon zu Beginn geschilderten Grunderfahrung, dass die Zugezogenen ihr Leben in Berlin wie Schauspieler führen, nichts - außer dass die "Bühne", die zunächst illegal besetzte Wohnung auf dem Prenzlberg zur Wendezeit in ein legales Mietverhältnis umgewandelt wurde. Wladimir Kaminer: Russendisko, München 2000 (Taschenbuchausgabe Goldmann Manhattan, 2002) ISBN: 3442541751 http://www.russentext.de/kaminer
Mehr Texte von Andrea Domesle

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: