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Various Others 2024

Ich seh ihn gehen er entfernt sich von mir ich schaue ihm auf den Rücken er dreht sich über die Schulter zu mir ich schaue in seine Augen seine Augen fliegen über mich hinweg dann kommt die Wand er ist weg.

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Der Typ von Frieze schaut aus als wäre er lieber woanders oder hätte eigentlich woanders zu sein, jedenfalls not amused, während uns die Galeristin etwas über, sagen wir, das Aufwachsen der Künstlerin im Ostdeutschland vor der Wiedervereinigung erzählt, während die Künstlerin selbst sehr konzentriert jedes der Worte, die ihre Galeristin über sie und ihre Arbeit sagt, auf ihre Gültigkeit abwiegt, während wir anderen damit beschäftigt sind, Handyvideos zu drehen.

Ich habe meinen besten Anzug eingepackt und mich in den Zug Richtung München gesetzt. Die 38 wichtigsten Institutionen, Galerien und Artist-Run-Spaces haben zu Various Others geladen. Einen Platz am Tisch bekommt, wer von Festivaldirektor Christian Ganzenberg vorgeschlagen, und von den bestehenden Mitgliedern nicht abgelehnt wird. Vinh Thang, ein Sammler-turned-Galerist, der die erst einjährige Galerie nouveaux deuxdeux leitet und für eine Art Generationswechsel in der Galerienszene Münchens steht, zeigt sich über seine erstmalige Teilnahme entsprechend zufrieden: "München hatte lange einen Stock im Arsch. Sammler:innen gingen lieber nach Berlin um einzukaufen. Mit Various Others verschiebt sich das ein bisschen. Christian macht einen guten Job." Trotzdem sind die Zeiten nicht einfach, gibt Françoise Heitsch in ihrer Galerie direkt gegenüber zu. Früher... Zu drastischeren Worten greift Kirsten Schrick, eine Frau, die überall Möglichkeiten sieht und nicht zögert, sie zu ergreifen und den Lobreden nach zu beurteilen, die auf sie gehalten werden, eine besonders wichtige Persönlichkeit im Einsatz für einen bayerischen Standfuß im globalen Kunstmarkt spielen muss. Die Welt, so ganz allgemein gesagt, befinde sich im Zustand höchster Volatilität und werde zunehmend komplexer. Da brauche es Visionen, also Kunst. Neben Kunst sammelt sie Visitenkarten, und ich bin ein leichtes Opfer. Gerade kommt ein Mail rein...

Wir Journalist:innen - die vierte Gewalt! - zeigen uns derweil wenig beeindruckt. Mit höflicher Miene registrieren wir jeden Pep-talk, jeden Pitch, jede Undenkbarkeit, der der Anstrich der Normalität gegeben ist. Why change a winning team?

Mein größtes Problem: So manch eine Ausstellung ist Schlagwort-gespickt wie SEO-optimierte Websites. Mein zweitgrößtes Problem: meine erst- und drittgrößten Probleme widersprechen einander, nämlich: Ich finde mich plötzlich an einem Tisch wieder, an dem ich - als Repräsentant meiner Generation, als der ich von meinen Gegenübern ausgemacht wurde - erklären muss, was Othering ist. Dieses Mal zeigt sich die andere Seite wenig beeindruckt. Viel schwerwiegender sei ohnehin (es spricht ein Galerist) der sperrige Name, der sich hinter Various Others verbirgt: Verein zur Förderung der Außenwahrnehmung Münchens als Kunststandort VFAMK e.V.

Mein nächstgrößeres Problem, ein Luxusproblem really, ist ein Finanzierungsproblem. Es und ich treffen aufeinander, als wir (erst ich, dann folgt es) in der Galerie Britta Rettberg auf die Arbeiten von Lennart Lahuis, Paul Valentin und Nikolas Ventourakis treffen. Lennart Lahuis präsentiert Arbeiten, die, wie es so schön heißt, Fragen von Konservierung und Verfall aufmachen (Im Raum stehen Kanister für griechisches Öl, Mülleimer für die eigene Küche, und ein großer Kessel für Heißgetränke aus denen alle paar Sekunden ein Spruch ("FEEL CHANGE", ...) aus Wasserdampf aufsteigt. An den Wänden hängen als archäologische Fundstücke inszenierte Fragmente von Tonplatten, deren stellenweise lesbaren Textstellen von ihrem eigentlich jungen Alter zeugen). Im Moment sind mir die Fragen egal, aber die Arbeiten treffen einen Punkt, der sie interessant macht: sie machen sich rar.

        Jordan Belfort, der Wolf of Wall Street bevor es Wolf of Wall Street gab, meint: I won't try sell you a pen if you don't need a pen.

 

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"Japanischer Staudenknöterich ist Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus Japan nach Europa gekommen. Verantwortlich dafür war ein europäischer Herrscher, dem die Pflanze gefiel. Außerdem sollte sie als Viehfutter verwendet werden können. Heute wird Japanischer Staudenknöterich zu den invasiven Arten gezählt, die in diesem Gebiet nicht nur nicht ursprünglich heimisch, sondern auch problematisch für das vorhandene ökologische Gleichgewicht ist. Japanischer Staudenknöterich ist sehr robust und kann in unwirtlichen Umgebungen überleben. Er kann gegessen oder zu Tee zubereitet werden. Ihm wird medizinischer Nutzbarkeit zugeschrieben." Wir sind in einem Park in Haidhausen, einem Viertel etwas abseits des Kunstclusters rund um die Pinakotheken, in dem mit Lothringer 13 und Milchstraße 4 zwei nichtkommerzielle Kunsträume zu finden sind und, wie wir jetzt von der Künstlerin Nora Byrne erfahren, auch eine Reihe sogenannter Neophyten - mittlerweile - heimisch sind. Die Führung ist Teil mehrerer Projekte von Lothringer 13 rund um den Begriff der Dirty Care. Ich fühle mich in doppeltem, und nur im guten, Sinne an die Hand genommen. Ich kenne diese Lektion. Manchmal wird sie als neueste Erleuchtung einer intellektuellen Elite präsentiert. Aber hier wird sie als relativ simple Erkenntnis angesichts der - im Rückblick immer überdeutlichen - Kurzsichtigkeit der Menschen (Herrscher) vorgeführt.

Der Abstecher zu Lothringer 13 ist eine Abweichung vom Programm, das für uns organisiert worden ist und hauptsächlich im Besuch der Verkaufsgalerien besteht, die schließlich etwas für ihr Geld wollen, wobei ich nicht ganz durchblicke ob sie, bayerische Steuern oder BMW für mein Hotelzimmer gezahlt haben. Alles nicht-kommerzielle hat ja immer ein paar Sympathiepunkte voraus, aber tatsächlich liefern die Artist-Run-Spaces auch. Sharon Wagner demonstriert beim nächsten solchen, Milchstraße 4, die Lust zu Malen, was blöd klingt (und von mir kommt) aber eine tiefe Weisheit enthält, bin ich sicher. Über die dicht behangenen Wände sind Prozesse der Bildfindung - Skizzen, Studien, Abstraktionen, sichtbar Zusammenhängendes und scheinbar Loses - ausgestellt.

Zwei der kreativsten Ausstellungen an diesem Wochenende von weiteren nichtkommerziellen Kunsträumen. Why are you crying? ist eine bitter-süße Nachricht von Jonas Höschl an die Fürstin Mariae Gloria von Thurn und Taxis, die er in Großbuchstaben per über dem Regensburger Familienschloss kreisenden Flugbanner überbringen ließ und nicht missverstanden werden kann. Das Videomaterial von der Aktion, das im Hinterhof von Nebyula im Innenraum eines weißen Kastenwagens gezeigt wird stellt dazu einige der Kunstwerke im ehemaligen Besitz der Fürstin vor und legt einige Widersprüche zwischen politischer Haltung und Sammlungspolitik offen.

Nicht weit davon entfernt stehen gut sichtbar vom Straßenraum aus sechs Stockbetten im Space n.n., die tagsüber als Display und nachts als Schlafplätze funktionieren. Es ist versucht worden, nicht zu viel über die Arbeiten zu erzählen, vielleicht um den Zauber des Fremden zu erhalten. Die Arbeiten liegen, stehen, hängen einfach rum und sind damit die Ausnahme.

Grundsätzlich ist die Einigkeit an diesem Wochenende, zwischen allen, die man trifft, groß, grundsätzlich über alles, vom sperrigen Namen des Vereins einmal abgesehen. Manchmal verstecken sich hinter vermeintlich geteilten Gemeinplätzen diskutable Konsequenzen, die ausgespart werden. Gewalt ist niemals die Lösung! Aber in der Vergangenheit war sie es, doch, hin und wieder mal?... Und wenn Frauen über Frauen sprechen, nicken Männer am lautesten. Die Ausstellung, die die Galerie Nagel Draxler zeigt, dürfte dagegen kontrovers betrachtet werden. Während der Ausstellungstext noch vage bleibt, macht die Künstlerin Teresa Kutala Firmino selbst relativ deutlich, um was es ihr geht: "Die Frauen in meiner Familie haben unter der Einnahme von Verhütungsmitteln gelitten. Wir werden vergiftet, und es wird uns als progressiv verkauft. Diese Ausstellung soll daran erinnern, dass eine Unterhaltung darüber geführt werden muss, wem die sogenannte Befreiung des weiblichen Körpers eigentlich nutzt." Und ich, ich nicke natürlich.

⤇ variousothers.com

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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