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Art-o-Rama: Bürgerkrieg in Marseille

"Sie sind dran, Doktor". Mit diesem Satz nahm der Bürgerkrieg in Syrien im Jahr 2011 seinen Anfang. Kinder hatten ihn an die Mauer ihrer Schule geschrieben. Er bezog sich auf die Absetzung von Diktatoren während des arabischen Frühlings und deutete an, dass es jetzt Zeit wäre für den Abgang von Assad. Der Schulleiter informierte die Behörden, die drei Kinder im Alter zwischen 12 und 15 Jahren wurden verhaftet und gefoltert. Die italienische Künstlerin Margherita Moscardini hat die Lebenswege der Kinder von damals recherchiert, mit ihnen gesprochen und die Schule fotografiert. Das Gebäude steht immer noch am selben Ort, aber leer. Zwei der damaligen "Täter" sind geflüchtet, einer lebt in Wien, einer in Deutschland, der dritte hat sich der Freien Syrischen Armee angeschlossen und kämpft gegen das Regime. Ihren Kinderstreich sehen sie im Licht seiner Konsequenzen unterschiedlich.

Der harmlos scheinende Spruch begrüßt die Besucher der Art-o-rama in Marseille, der kleinen Kunstmesse im weitläufigen Kulturzentrum Friche in Belle de Mai, einem stark migrantisch geprägten Stadtviertel. Dass die Gian Marco Casini Gallery aus Livorno hier zum zweiten Mal teilnimmt, ist kein Zufall. Die 2017 gegründete Galerie ist sonst nur auf zwei Messen in Italien (Artissima und Miart) und der Liste Basel vertreten. Hier könne er anspruchsvolle Projekte realisieren, erklärt Casini. Letztes Jahr war er damit zumindest erfolgreich. Denn die Messe ist zwar immer noch so etwas wie ein Geheimtipp, doch die Sammlerschaft im französischen Süden mit seiner Metropole Marseille, immerhin die zweitgrößte Stadt Frankreichs, ist nicht zu unterschätzen. Zudem ist die Teilnahme mit 3.500 Euro ausgesprochen günstig.

Das führt dazu, dass junge Galerien immer wieder den Weg hierher finden. Wenn auch nicht regelmäßig, sondern eher mit Projekten, die ihnen passend erscheinen. Die Fluktuation ist entsprechend hoch, auch abhängig von den Komiteemitgliedern. In diesem Jahr hat Marc LeBlanc zwei Kollegen aus Chicago mitgebracht. Eine ganze Reihe junger Londoner Galerien scheint von sich aus gekommen zu sein, darunter die gerade erst zwei Jahre alte Des Bains oder die Public Gallery, die es schon in ihrem Gründungsjahr 2023 auf die Frieze London und danach auf die Art Basel Hong Kong geschafft hat. Aus Österreich ist house of spouse dabei, Sophie Tappeiner teilt sich den Stand mit der City Galerie, deren Künstlerinnen Anna Zemánková und Xenia Bond ähnliche konzeptuelle Ansätze verfolgen.

Die hohe Fluktuation hat über die Jahre durchaus zu Qualitätsschwankungen geführt; heuer wirkt die Messe ausgesprochen frisch und anregend. Hilfreich dürfte die Vielzahl an Preisen sein, die auf oder anlässlich der Messe vergeben werden, zumeist von privaten Sammlungen oder Stiftungen. Insgesamt sind es nicht weniger als acht. Der aufwendigste Preis ist jedoch der Prix Région Sud, der in einem mehrstufigen Auswahlverfahren vergeben wird und dessen aktuelle Finalisten in der separaten Sektion Edition & Design ausgestellt werden. Die 44 Galeristen der Hauptsektion müssen daher ein paar Treppen zum "Tour" steigen, um dorthin zu gelangen, denn sie wählen die Gewinnerin bzw. den Gewinner aus, die/der im nächsten Jahr mit einer Solopräsentation in der Haupthalle, der "Cartonnerie", geehrt wird. Der oft strapazierte Begriff "Boutiqemesse" erfährt in Marseille eine ganz andere, inhaltliche, Bedeutung als bei Veranstaltung wie etwa in Aspen oder Monte Carlo, wo es vor allem darum geht, die One Percenter in ihren Reservaten abzugreifen.

Mehr Texte von Stefan Kobel

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Art-o-Rama
30.08 - 01.09.2024

Friche la Belle de Mai
13004 Marseille, La Tour 3rd floor, La Cartonnerie, 1es Plateaux
https://art-o-rama.fr
Öffnungszeiten: 14-20 h


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