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Der Stoff aus dem Geschichten sind

Mariana Castillo Deballs Installation "Dead, I Am Still Paper" auf dem Domplatz St. Pölten

So unterschiedlich kann man mit der Vergangenheit umgehen: geht der Blick in diesen Tagen auf dem St. Pöltener Domplatz in Richtung Boden, gleitet er an einer versiegelten Betonfläche ab. Von den Überresten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher St. Pöltner*innen, die hier begraben lagen, keine Spur. Von 2010 bis 2019 wurde das Gräberfeld archäologisch aufgearbeitet, die menschlichen Überreste auf den Friedhof und Artefakte in museale Sammlungen überstellt, und dann hieß es, Deckel drauf.
Dem zum Gegensatz öffnet sich die Installation der mexikanischen Künstlerin Mariana Castillo Deball, die hier im Zuge des Tangente-Festivals entstanden ist, der Weite des Himmels. „Dead, I Am Still Paper“ hebt den Blick auf ein Netz in drei Metern Höhe, das die Fläche der Ausgrabungsstätte aufspannt. Auf gespannten Drahtseilen sind zahlreiche Stoffelemente aufgehängt. Sie sind sichtbar Teile eines zusammenhängenden Bildes, vielleicht mehrerer Bilder, doch bleibt dieses große Ganze unbestimmt. Weht Wind, und es weht immer Wind, ist ein Flattern zu hören, das sich in die Stille - zu festen Zeiten vom Läuten der Kirchglocken gebrochen - des Orts mischt und eine Atmosphäre der Andacht erzeugt.

"Dead, I Am Still Paper" schöpft aus dem Wissen um die historische Papierproduktion, aus mittelalterlichen Bildquellen, und aus den archäologischen Funden der Stätte. Papier wurde lange Zeit aus Stoffresten hergestellt: den Lumpen, die von Lumpensammler:innen zusammengetragen wurden - auch die Kleider von Verstorbenen fanden hier Verwendung. Die Künstlerin zeigt sich fasziniert von der Transformation und der metaphorischen Kraft, die dem inneliegt. Denn die Dynamik von Vergänglichkeit und Fortleben ist doppelter Art, liefert doch Papier auch die Grundlage für Geschichtsschreibung.

Man sieht sich eingespannt zwischen zwei Gegensätze: unten der fixierende, distanzierende, verdeckende Gestus. Oben einer der beweglichen Unbestimmtheit, der die Vergangenheit ans Licht holt. Vielleicht zeigt sich hier auch ein Unterschied zwischen der mexikanischen und mitteleuropäischen Kultur, zwischen der Integration der Toten in den materiellen Alltag, einer nie abgeschlossenen Erinnerung an der Schwelle zur Gegenwart - und dem Bau steinerner Denkmäler, die zwar gegenwärtig sind, aber mehr zur Abgrenzung einer imaginierten kulturellen Identität oder einer überkommenen Vergangenheit dienen. 

Viele Einzelschicksale sind in Ort und Arbeit verstrickt. Details von einzelnen Überresten bilden eine der Grundlagen für das Bild, aus dem sich die Stoffteile zusammensetzen; in der Papierproduktion mischten sich Stoffreste verschiedenster Herkunft. Diese Stränge bleiben ungreifbar. Erst im Zusammenspiel spenden die Stoffteile Schatten, nur im Ganzen betrachtet machen die Teile Sinn. Und endlich werden sie sich unter dem Ryhthmus von Sonne, Wind und Regen auflösen.

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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