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Pierre Huyghe - Liminal: Zustandsverschiebungen

Der Begriff „Liminal“ beschreibt eine zeitliche Unterbrechung, einen Stillstand in der Bewegung, einen Übergangszustand, der oft mit Verzweiflung verbunden ist, in dem aber dennoch ein Ausweg bleibt. Es herrscht ein Gefühl von Traurigkeit, Dunkelheit, anhaltender Einsamkeit und die Furcht vor dem Anderssein vor. Solche psychischen wie ephemeren Begegnungen in Bezug auf Raum, wie auch speziell auf posthumane Formen macht die bisher aufwändigste Präsentation des französischen Künstlers Pierre Huyghe gerade in großem Stil eindrücklich erfahrbar: in der Punta della Dogana der Pinault Collection in Venedig.

Die Präsentation mit dem Titel Liminal definiert der Ausstellungsführer als „ein Experiment, die Simulation eines spekulativen menschlichen Zustandes. Huyghe hat sich lange und ausführlich mit dem Über- und Nicht-Menschlichen sowie artenübergreifenden Existenzen und der KI, Kybernetik und den Neurowissenschaften beschäftigt. Legendär und mythenumworben ist bereits sein kultureller Kompost auf der D13 (2012) mit dem rosafarbenen Bein eines Hundes und einer hybriden Kreatur aus steinerner weiblicher Aktenfigur und einem summenden Bienenschwarm als Kopf. Dieses lebendige Kunstwerk von symbolischer Bedeutung verkörperte in Erinnerung an die mythologischen Mischwesen á la Zentaur, halb Mensch, halb Pferd eine faszinierende Verbindung zwischen Mensch und Natur.  Was einst als Naturutopie galt, wird heute zu einer Spekulation über eine mögliche Zukunftsvision, in der nicht der Mensch im Zentrum steht, sondern neue Lebensformen, die weiter ohne menschliches Tun existieren.

Der vielfältige Parcour in Venedig, der mit einer riesigen vertikalen Videoprojektion „Liminal“ beginnt, besteht aus den neun „Rooms“ auf zwei Ebenen, wobei Durchblicke zusätzliche Beziehungen schaffen. Deshalb zählt es hier nicht nur ein Einzelbild oder eine Raumsituation, sondern, wie öfters bei Huyghe, die Gesamtheit aller Eindrücke der Rezipient:innen, die sich zwischen Installationen, Skulpturen und Filmen in den dunklen Ausstellungsräumen frei bewegen können, um die verschiedenen Perspektiven und Blickwinkel zu erkunden. Die Verwendung von computergenerierten Figuren und technologischen Elementen schafft wiederum eine surreale und zugleich futuristische Atmosphäre, die die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwinden lässt.

Das erste Ausstellungsbild zeigt eine inhumane, nackte weibliche Person ohne Identität mit schwarzem Loch im Schädel, die sich in einem Vakuum zu den an den lebenden Menschen angeschlossenen Sensoren minimal bewegt – stehend oder kriechend auf dem Boden. Woanders werden die Menschen wiederum zu stummen, bloß mechanischen Trägern von goldenen LED-Bildschirmmasken, die Informationen in bestimmte Phoneme und Syntax umwandeln und dann vokalisieren - wie das Ausstellungsheft erklärt.

Im Video Human Mask (2014) trägt ein Affe, der wie ein Mädchen aussieht eine ausdrucklose, weiße Noh-Maske statt eines Gesichts und vermittelt damit ein Gefühl der Isolation und des Verlustes. Er betätigt sich als eine Servierkraft in einem Restaurant in der Stadt Fukushima nach dem nuklearen Desaster (2011). Auch in diesem Video scheint die Zeit stillzustehen. Deshalb nimmt diese Suspension überdies die Form der Erinnerung oder Nostalgie ein. Es sind bloß nur manche Gesten, die Perücke oder die huschende Bewegung des Tieres - die wir letztendlich als sichtbare Bruchstücke des Menschlichen erkennen. Die Gedanken des Makakenaffens bleiben jedoch im Verborgenen.

Noch markanter und unheimlicher geht es in dem neuesten Film des Künstlers, Camata zu, in dem die High-Tech Robotik ihre enigmatischen Untersuchungsrituale am menschlichen Skelett in der Atacama Wüste in Chile durchführen - bis der Bildschirm abrupt schwarz wird. Es ist die ältesten Wüste der Erde, die von der NASA als Testgelände verwendet wird. In den verstörenden Aufnahmen, wenn die Kamera näher heran zoomt, kriechen die Roboter wie Spinnen über die leblosen Knochen, um die Daten zu sammeln. Alles ist von dezentem Summen begleitet. Das Gefühl der Beklemmung lässt nicht nach.

Das apokalyptische Szenario lässt im siebenten Raum etwas nach, ebenfalls unter dem Einfluss eines selbstgenerierenden Systems (Offspring, 2018). Eine neblig-farbliche Lichtshow mit Meeresgeräuschen, die durch ein KI-Programm erzeugt wurde, sorgt für leichte Auflockerung in der entrückten Atmosphäre. Diese aber wird erneut beklemmend in den Räumen mit riesigen Aquarien, in denen verschiedene kleine Meeresbewohner wie Fische und Einsiedlerkrebse inmitten von Gussstücken leben, die an menschliche Körperteile erinnern. Darunter befindet sich auch eine Replik der skulpturalen Maske von Constantin Brancusi Die Schlafende Muse. Diese als Repräsentantin des Humanen bildet mit einer lebendigen Krabbe eine fantasievolle Hybride und ein auffälliges Detail. sUm welche Frage und welche Antwort handelt es sich hier?

Die Frage bezieht sich auf unsere eigene Fremdheit und unser mögliches Ende, mit welchem wir in den düsteren und faszinierenden Hallen der Punta della Dogana konfrontiert werden. Es wird darüber spekuliert, ob wir in der Lage sind über unsere bisherigen Limits hinauszugehen und das Verständnis unserer Existenz zu verändern. Die Antwort wäre Huyghes sensible, sinnliche und dennoch eindringlich Kunst, die den Nerv der Zeit trifft: In den imposanten Hallen existieren letztendlich nur wir selbst.

Mehr Texte von Goschka Gawlik

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Pierre Huyghe - Liminal
17.03 - 24.11.2024

Punta della Dogana
30123 Venedig, Dorsoduro, 2
https://www.pinaultcollection.com
Öffnungszeiten: Mi-Mo 10-19 h


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