London Gallery Weekend: Kunst im Keller
Platz ist in der kleinsten Hütte, meint der Volksmund. Für eine junge Galerie in London ist das eine (Über)-Lebensmaxime angesichts der Immobilienpreise. Denn erstaunlicherweise sind gerade nach Brexit und Corona zahlreiche Galerien gegründet worden. Und fast noch erstaunlicher, wurden einige von ihnen auf Anhieb zum London Gallery Weekend zugelassen.
In seiner vierten Ausgabe, ist die Veranstaltung auf 134 Teilnehmer angewachsen und damit die größte ihrer Art. Mittlerweile eröffnet auch immerhin mehr als die Hälfte von ihnen eine aktuelle Ausstellung an diesem Wochenende. Darauf weisen die Organisatoren eigens hin, denn anfangs war das nicht selbstverständlich. Die große Teilnehmerzahl verdeutlicht, dass sich das LGW als inklusive Veranstaltung versteht, die ein möglichst breites Spektrum der städtischen Szene abbilden will.
Gerade erst im letzten Juni hat die Alice Amati Gallery eröffnet, fußläufig zum Regents Park, aber ansonsten etwas ab vom Schuss, in einem ehemaligen Ladenlokal, in dem man mit ausgestreckten Armen fast beide Seitenwände berühren kann. Ein Großteil der Kunst wird im Keller gezeigt. Die Galerie hat es sich auf die Fahnen geschrieben, jungen Künstlerinnen und Künstlern am Beginn ihrer Karriere eine Plattform zu bieten. Das ist an diesem Wochenende Yi To, geboren 1995 in Hongkong, mit einem Abschluss am Royal College of Art im Jahr 2021. Andererseits sind auch Galerien dabei, die mit ihrem konservativeren Programm in Berlin oder Wien wohl schlechtere Chancen hätten, in den exklusiven Zirkel der dortigen Formate aufgenommen zu werden. Wie etwa der (nicht nur) auf Papier spezialisierte Patrick Heide, der neue Arbeiten der Schweizerin Sophie Bouvier Ausländer (4.000 bis 18.000 Euro netto) zeigt, mit der er schon seit vielen Jahren arbeitet.
Die Teilnehmerzahl und die Größe der Stadt machen es unmöglich alles zu sehen. Bei der Auswahl helfen ein Dutzend "kuratierte" Touren, die mit dem Smartphone in der Hand abgelaufen werden können, und die (grobe) Verteilung der Eröffnungen über das Wochenende in jeweils verschiedenen Gegenden der Stadt. Ansonsten kann man sich auch einfach treiben lassen. Denn nicht nur Nan Goldins gut halbstündiger Film "Sisters, Saints, Sybils" würde jeden Zeitplan durcheinanderbringen. Die Gagosian Gallery hat eine ehemalige Kirche des 19. Jahrhunderts angemietet und zeigt hier für drei Wochen unter der imposanten Kuppel auf drei Bildschirmen Goldins Erzählung davon, wie elterliche Unzulänglichkeit und emotionale Kälte ihre Schwester in den Selbstmord und die Künstlerin selbst in die Drogenabhängigkeit getrieben haben und wie sich aus dieser wieder herausgekämpft hat. Triggerwarnung: Nach dem Film wird man wohl nie wieder unbefangen durch eine Einfamilienhaussiedlung gehen können.
Ganz groß fährt auch Thaddaeus Ropac auf. Im Ely House wird erstmals seit seiner Abschlusspräsentation 1991 in Washigton das ROCI-Projekt (ausgesprochen wie „Rocky“) Robert Rauschenbergs ausgebreitet. Zwischen 1984 und 1990 hatte der Künstler verschiedene Länder bereist, darunter die UdSSR, China und Chile, um in einem interkulturellen Dialog Werkgruppen zu schaffen, die anschließend in dem jeweiligen Land ausgestellt wurden. In Deutschland hatte er mit Heiner Müller zusammengearbeitet. Am Ende hatten zwei Millionen Menschen überall auf der Welt eine der Ausstellungen besucht, deren Einfluss zum Teil bis heute bei Künstlern nachwirkt. Die monumentale „Caryatid Cavalcade I“ kostet 6,5 Millionen US-Dollar, die Preisliste beginnt bei 40.000 Dollar.
Die Kunstszene Londons erweist sich als lebendiger, als man nach den Entwicklungen der letzten Jahre hätte erwarten dürfen. Und nach den jüngsten Preissteigerungsexzessen auf dem europäischen Festland erscheint die Stadt auch gar nicht mehr ganz so grotesk teuer.