Kader Attia - J'Accuse: Zeugen der Anklage
Man mag sich an Kader Attias eindrücklichen Beitrag bei der documenta 13 im Jahr 2012 erinnern. „The Repair from Occident to Extra-Occident“ war der Titel der Installation im Fridericianum, gleichsam ein Schaudepot zur Thematik der „gueules cassées“, den von Splitterbomben zerschmetterten Gesichtern von Soldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg präsent wurden. In Regalen standen von afrikanischen Maskenschnitzern gefertigte Holzbüsten dieser devastierten, notdürftig reparieren Gesichter, ergänzt von allerlei dokumentarischem Material, bei dem auch deutlich wurde, wie viele teils zwangsrekrutierte Soldaten aus kolonialisierten Gebieten an diesem Krieg teilgenommen hatten.
Themen wie Reparatur, Wiederherstellen, Heilen sind Konstanten im Werk Attias. Für seine Ausstellung in der Berlinischen Galerie stellt er nun in zwei Räumen Skulpturen in einen Dialog mit Filmmaterial. Betritt man die Ausstellung, blickt man 17 hölzernen Büsten ins Antlitz, die einer Filmprojektion zu folgen scheinen. Die Installation „J'Accuse“ (2016) besteht aus den Büsten, acht weiteren Skulpturen, die Gehbehelfen ähneln, und einem Ausschnitt des gleichnamigen Films des Filmpioniers Abel Gance. In der Version des Antikriegsdramas von 1919 gab es noch die Szene, in der sich aus einem Gräberfeld hunderte von gefallenen Soldaten erheben, Jahre später, in der Fassung von 1938, sind es die Versehrten des ersten Weltkrieges, die nun als Darsteller gegen einen nächstenKrieg mobil machen. Einmal mehr fragt man sich dieser Tage, ob aus der Geschichte wohl nie gelernt wird.
Ebenso ins Grübeln gerät man beim zweiten Ausstellungsraum in der Installation „The Objec's Interlacing“ (2020) vis-à-vis mit 22 auf Stelen präsentierten, afrikanischen Artefakten, oder besser gesagt, deren Repliken aus dem 3D-Drucker. Allesamt ist ihnen gemein, dass sie als Teil des Pariser Musée du quai Branly, von ungeklärter bis zweifelhafter Provenienz sind und ein Fall für Restitution wären. Welche Fragen das aufwirft wird in der Videoarbeit von unterschiedlichsten Menschen aus verschiedenen Blickrichtungen erläutert. Denn an wen beispielsweise werden die Objekte zurückgegeben oder geht es um deren monetären Wert oder der immateriellen Qualitäten, die derlei Kultgegenstände besitzen? Ist diese Art von entstandenem Schaden überhaupt zu reparieren? Je länger man in den beiden Räumen verweilt, desto mehr haben sie miteinander zu tun.
Am Weg hinaus verweilt man nochmals am Entrée der Ausstellung, die von sieben Collagen von Hannah Höch aus den Beständen des Hauses eingeleitet wird. „Aus dem ethnographischen Museum“ ist der Titel der Serie, aus der die Blätter stammen, und sie zeigen Körper und Gesichter, zusammengesetzt aus Abbildungen außereuropäischer Kunstwerke und Frauenbildnissen der 1920er Jahre. Freilich ist auf eine Analogie der „gueules cassées“ und dem Prinzip der Collage der 1920er Jahre bereits verwiesen worden. Veteranen mit zerstörten Gesichtern und fehlenden Gliedmaßen, bei denen nach allen damaligen Regeln der plastischen Chirurgie und mit kunstfertigen Prothesen, versucht wurde, sie optisch wie funktionell wiederherzustellen, waren nach dem ersten Weltkrieg nicht nur Teil des Alltags sondern auch, wie etwa bei Otto Dix oder George Grosz, bildwürdig geworden. Die Dada-Dame Hannah Höch indes fügt Fragmente aus Zeitschriften zu dem verschrobenen, expressiven Ganzen. Da die unterschiedlichen Bildausschnitte keinerlei Wertung unterliegen, nivelliert sie in den Collagen die unterschiedlichen Motive aus den verschiedenen Kulturräumen zu einem Werk. „Dieses Unsichtbarmachen des Ausbeutungssystems dieser Kulturen“, so der Pressetext, ist ganz im Sinne Kater Attias. Ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung haben diese Blätter nichts an Aktualität verloren.
27.04 - 19.08.2024
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