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Zensur, anybody?

Am Donnerstag traten die verbliebenen vier Mitglieder der Findungskommission der documenta 16 zurück. Vorangegangenen war der freiwillige, belastungsbedingte Rückzug der israelischen Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger sowie der Rücktritt von Ranjit Hoskoté, nachdem ein Flirt mit BDS bekannt geworden war. Hätte ihn die documenta gGmbH halten müssen? Nein. Zurecht wies Meron Mendel im Rahmen der ebenfalls am Wochenende stattgefundenen Konferenz „Die documenta 15 als Zäsur?“ auf die „Compliance“-Pflicht hin: der Leitung waren weder das betreffende Statement, noch Hoskotés Unterschrift bekannt. Professionalität ist nach der Vorgeschichte der letzten, in Konzeption, Durchführung und Auswirkung immer noch nicht kritisch voll erfassten Ausgabe um so wichtiger.

Der Schritt der verbliebenen Kommissionsmitglieder erfolgte freiwillig, mit fragwürdiger Begründung. Nicht nur, dass die aktuelle Forschung – unter anderem die Schau „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum 2021 – mit dem Mythos einer documenta Schluss gemacht hat, die es sich, wie die vier Kuratoren in ihrer Begründung anführen, zum „politischen Prinzip“ gemacht habe, „die Welt durch den Fokus der Kunst mit explizitem Bewusstsein für die unvorstellbaren Schrecken, die ideologische Blindheit auf den Plan ruft, immer wieder neu zu verhandeln.“ Schwerer als dieses – seinerseits ideologische – Fortschreiben des documenta-Mythos wiegt, wenn Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez sich mit ihrer Behauptung eines „emotionalen und intellektuellen Klimas der Über-Vereinfachung komplexer Wirklichkeiten und der daraus resultierenden restriktiven Beschränkungen“ aus ihrer kuratorischen Verantwortung stehlen und zudem das Narrativ stützen, Deutschland ließe keinen Raum, „um offen Ideen auszutauschen und komplexe und nuancierte künstlerische Ansätze zu entwickeln, wie es an der documenta beteiligte Künstler und Kuratoren verdienen.“

Tatsächlich geistert dieses Narrativ derzeit verstärkt durch die analogen und digitalen sozialen Netzwerke des Kunstfelds. Folgt man dem Narrativ, herrsche in Deutschland ein Klima der staatlichen Zensur, behördlicher Willkür, medialer Gleichschaltung. Gerade Pro-Palästina- Demonstrationen würden immer und grundlos verboten, Aktivisten seien Polizeirepressionen ausgesetzt, Kulturschaffende würden gecancelt. Gern wirken an seiner Verbreitung Akteure mit, die sich, angeblich, der palästinensischen Sache verschrieben haben. Nicht wenige scheinen aber vor allem damit beschäftigt, das durch den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober verursachte vielfache Leid im Sinne der eigenen Profilierung zu kapitalisieren.

Allein die schiere Menge solch öffentlicher Äußerungen, die Prominenz und Reichweite der Plattformen, auf denen dieses Narrativ ungehindert verbreitet werden kann, muss Zweifel an seiner Plausibilität wecken.

Es passt zudem in die Logik der auch von einigen Akteuren des Kunstfelds via Social Media verbreiteten Desinformation, Propaganda und Hetze, die man oft getrost auch dann als „antisemitisch“ bezeichnen kann, wenn sie sich als „Israelkritik“ ausgibt. Wem wäre im Gaza, im Westjordanland, in Israel konkret damit gedient? Einen realen Effekt hat dieses Treiben sehr wohl: Es vergiftet den Diskursraum – auch in Deutschland. Es zementiert hinter komplex klingenden Argumentkaskaden ein Weltbild, das tatsächlich simplizistisch nur die Einteilung in „wir/gut“ und „die/böse“ zulassen will. Genau dem müsste sich eine verantwortungsbewusste documenta-Findungskommission jetzt erst recht stellen.

Im Netz kursiert derweil eine anonyme Liste, die mehrere hundert Institutionen und Initiativen aus der Kulturwelt, und unterschiedslos, ob privatwirtschaftliches Unternehmen, öffentliche Einrichtung, Magazin oder Hochschule in immerhin drei Kategorien einteilt: „Supporter“, „Silents“ und „Pro-Zionists“, letztere rot hinterlegt. Zensur, anybody?

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artmagazine Diskurs zum Rücktritt der Findungskommission:
Hier ein Beitrag von Raimar Stange: --> Findungskommission mit Haltung

Mehr Texte von Hans-Jürgen Hafner

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