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Zurück zu vergangenen Geschichten, vergeblich

Menschen und Dämonen oder „status quo and evil“ – unter diesem literarischen Motto bietet das Grazer Festival Steirischer Herbst`23 vier thematische Ausstellungen an zum Teil ungewöhnlichen Orten in unterschiedlichen Stadtteilen und wie jedes Jahr ein dichtes Performance- Talks- und Parallelprogramm.

Es geht um moralische Ambivalenzen und einander überlagernde Nuancen obsessiver Passionen und zwangsläufigen Überlebenskonformismus, Schwächen und Schändliches oder um Menschsein in der Vergangenheit und heute, was aktuell in vielerlei Hinsicht als tragisch und psychisch belastend empfunden wird. Und wenn man im Einleitungstext des Festivals von Intendantin Ekaterina Degot zusätzlich die phrasenhafte Formulierung „Die Mächte des Bösen greifen uns an“ liest – dann bekommt man wahrhaftig die Gänsehaut. Kein Wunder also, dass nach der Eröffnungsrede, hoch auf dem Schlossberg, und der überraschenden, aber doch viel zu langen, um ihre anfängliche Wirkungskraft in Erinnerung zu behalten Performance Agoraphobia vom Opermenthusiasten Lulu Obermayer, die Lust auf einen dämonischen Drink - Long Island Ice Tea - aufkam. Der Drink besteht aus fünf verschiedenen Alkoholsorten und Coca-Cola. Der Nachgeschmack dieser verrückten Mischung hielt noch zwei Tage an. Das Konzept von „Humans and Demons“ basiert nämlich auf ähnlichen Prinzipien, wie der oben erwähnte Cocktail – viele gute Alkoholsorten werden zu einer Mischung zusammengegossen, in der man die Ausgangsbasis nicht mehr erkennen kann. Was auch Teile der Auftragswerke betrifft, die im Rahmen des Festivals präsentiert wurden. Es kann sein, dass die Gegenwartskunst nicht mehr den vielfältigen Empfindungen der Literatur oder fragiler Poesie folgt, die im Festivalkonzept und in der Rede der Intendantin immer wieder aufs Neue beschworen wurden. 

Künstlerisch ansprechend fand ich das zur "Church of Ruined Modernity" umbenannte Minoritenkloster, in dessen Mittelpunkt die kuratorische Intervention einer KI-generierten Fotodokumentation eines Graz-Besuches der nach Brasilien ausgewanderten jüdisch-schweizerischen Künstlerin Mira Schendel steht. In den bis zum Dachboden zugänglichen, verdunkelten Räumlichkeiten des Klosters war unter anderem das Video Circuit Bending der Amerikanerin Meg Stuart zu sehen, in dem die bekannte Choreografin mit der modernistischen Architektur der Uni-Vorklinik aus den 1970er Jahren interagiert. Zunehmend verschlüsselt gestaltete sich die raumgreifende skulpturale Installation der documenta-Teilnehmerin Maria Loboda. In ihrer auf die Architektur von Giorgio Scarpa bezogenen Art eines begehbaren Gartens der Un/Lüste, betitelt What`s Best Is Hidden, Obvious, and Correct im Innenhof des Klosters, mischte sie die monumentale Architektur des Ostblocks, hier genauer die von der polnischen sozialistischen Stadt Nowa Huta (Neue Hütte), mit der italienischen Neigung zu Ornament und Dekor. Dabei ging es ihr möglicherweise weniger um Machtstrukturen als vielmehr um diese der Ohnmacht: Um Empirie samt Empathie oder sogar einen Impuls zur Handlungsfähigkeit, worauf die auf den Skulpturen hier und dort sichtbaren kämperischen Graffitis hinweisen. Erwähnenswert ist auch die Präsentation des sich im bürgerlichen Stadtteil Mariatrost befindlichen "Demon Radio" in einem ehemaligen Call-Center. An diesem Ort geht es um Digitalisierung und insbesondere um KI und ihre „dämonischen“ Kräfte.  Diesbezüglich aufschlussreich und sehenswert ist hier das neue Video Book of the Machines von Dani Gal aus Israel. Sein Film vergleicht die gegenwärtige Furcht vor KI mit der jeweiligen Angst im 19.Jahrhundert, die der Rassismus und das Andere anhand der Umwandlung der Maschine in exotisch aussehende Figuren verbreiteten. Daneben wird die umfangreiche Schallplatten-Kollektion des umstrittenen Sammlers Dietrich Schulz-Köhn gezeigt, der sich in der NS-Zeit für den verbotenen Jazz einsetze. Trotzdem war er SA- und NSDAP-Mitglied und hinterfragte die NS-Politik zu keiner Zeit.

Trotz überzeugender Arbeiten und Performances, wie etwa Giacomo Veronesis spannend choreografiertes und gespieltes Border EUphoria, verleiht der durchwegs starke Bezug zur Stadt Graz und ihrer Bewohner:innen dem Steirischen Herbst einen regionalen Charakter, auch weil viele der hier angesprochenen Themen viel radikaler schon vor langer Zeit international reflektiert worden sind. Ein Avantgarde-Festival hätte jedoch die Zeichen der Zeit eines drohenden Rechtsruckes in der Gesellschaft konzeptuell und künstlerisch anders formulieren können.   

Noch bis 15. Oktober
--> www.steirischerherbst.at

Mehr Texte von Goschka Gawlik

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