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The Prompt. Curated by Adomas Narkevičius: Course in Mischief

Der kleine Ernesto will nichts lernen, was er nicht schon weiß und bringt damit seine Lehrer zur Weißglut. Wieso nicht?, fragen seine Eltern, fragt der Lehrer. Weil es nichts bringe, kommt flapsig zurück. Er wisse, Nein zu sagen, und das reiche. Und wie soll er dann lernen zu schreiben, zu lesen, zu rechnen? Kraft der Dinge – „par la force des choses“! Seine Eltern reagieren mit einer Mischung aus Bitterkeit und Liebe, Mitgefühl und Spott. Man kann nicht anders, als sich seinem Charme ergeben, mit dem er das Bitten und Flehen der Älteren abweist und sich ihrer Macht entzieht. Er gehe jetzt nach Hause, bestimmt Ernesto, und lässt die Alten alt aussehen.

Es ist ein kleines Paradestück in Sachen Subversion, das Marguerite Duras in ihrer Kurzgeschichte „Ah! Ernesto“ (1971) entwickelt hat. Ihr Protagonist steht nicht nur wegen der Arbeit „En Rachâchant“ (2022) von Ola Vasiljeva im Zentrum von „The prompt“. Ihr Kurator Adomas Narkevičius hat die vier mal drei Meter mächtige, und doch Volumen verweigernde Stahlarbeit in der Mitte des Raumes platziert. Der Titel greift eine unübersetzbare Wortschöpfung des Jungen auf, vielleicht käme „Wiederholung“ seiner Bedeutung nahe, aber der Punkt ist, dass es keine festgelegte Verbindung zwischen dem Wort und einer Sache gibt. Seine Sinnlosigkeit ist ein Ausdruck des Widerstands gegen die unreflektierte Selbstverständlichkeit mit der die Schule, die Eltern, das Etablissement ihre Position der Macht behaupten und den Glauben an die universelle Gültigkeit ihrer Philosophie einfordern.

Mit vier Arbeiten (fünf, rechnet man das spontan in ein Paneel der Glasdecke eingeritzte Graffiti mit) hat Ola Vasiljeva keinen unverhältnismäßig großen Anteil an der Ausstellung. Milda Drazdauskaitė und Elena Narbutaitė stellen beide genauso vier Stücke und Letztere verschafft sich mit drei überdimensionierten „Spickzetteln“, gefalteten Papieren, die von der Decke hängen und einem Laser, der sein Licht quer durch den Raum schickt, eine starke Präsenz. Vasiljeva aber dominiert auf unterschwellige Art und Weise das Narrativ. Am Treppenabgang, der Schwelle des Übertritts, hängt „Calendar“ (2015). Seine Stellung, genauso wie sein Tonfall haben den Charakter eines Manifests: „This course attempts to clear the field of our vision of all manner of socially convenient academic convention“ heißt es dort, und stellt für Tag 4 des Kurses eine Übung im Vergessen in Aussicht, die die Seligkeit des Wissens durch die der Ignoranz ersetzen soll. Am sechzehnten Tag dann ein „Kurs in Unfug“. Das Kind Ernesto ist nicht zu übersehen.

Der Kontext von „The prompt“ ist immer noch „Kelet“, das Stichwort des diesjährigen curated by-Festivals und ebensowenig wie Ernestos Geist ist zu übersehen, dass die drei ausgewählten Künstlerinnen allesamt Lettinnen sind und damit das Spannungsfeld zwischen dem Westen und Osten aus einer Innenperspektive heraus erleben und erlebt haben. Es drängt sich ein Gleichheitszeichen auf zwischen dem selbstgerechten Lehrer und dem Selbstverständnis der beiden konkurrierenden Blöcke. Und natürlich zwischen Ernesto und den Staaten des Baltikums oder Balkans, de jure gleichwertige Partner, de facto aber von den Wortführern im europäischen Staatenbund oft übergangen, wie Adomas Narkevičius hervorhebt. Die Fotografien Milda Drazdauskaitės (1951-2019) sind dann lesbar als Stiche gegen den Führungs- und Autoritätsanspruch von Systemen, die sich durch „Kolonialität“ auszeichnen (Aníbal Quijano), heißt, der mal mehr, mal weniger offen aggressiven Verbreitung eigener Wertvorstellungen, wie es der Lehrer Ernestos zeigt, wie es besonders unverblümt in großen Teilen des heutigen „nahen“ und „fernen Ostens“ geschieht und wie es seit mindestens 500 Jahren von Europa vorgemacht wurde. Einem Europa, dass nicht durch tektonische Platten begrenzt ist, sondern seinen Sexismus, Rassismus und Kapitalismus, aber auch die Trennung von Innen und Außen und ontologische Urteile weit über die Ufer des Mittelmeers und Atlantiks, aber auch über den Fluss Dnepr hinaus exportiert hat. Durch Bacon, Napoleon, Voltaire (der einerseits von oben herab über allem thront, dessen Locken andererseits auf dem gläsernen Dachstuhl Staub ansetzen) und co. zeigt sich auch dieser „Osten“ also nicht vor dem Übergriff Europas gefeit.

Zweifel an universeller Gültigkeit im Allgemeinen, und bezogen auf den Bereich des Wissens im Besonderen ziehen sich so durch die gesamte Ausstellung. Häufig artikulieren sie sich im Feld der Materialität: „The Ruin“ (2017) von Vasiljeva mimt irgendeinen Stoff zwischen Filz und Neopren, ist tatsächlich aber Keramik und liegt etwas formlos, eher Verpackung als Inhalt auf dem Boden. Besagtes „En Rachâchant“ wandelt zwischen Schrift, Bild, Skulptur und Architektur. Das Laserlicht Elena Narbutaitės „Frigs Fumy Sour“ (2018) entzieht sich der Haptik und sogar der Physik einer eindeutigen Definition. Und konterkariert die positiven Konnotationen von Licht – wobei „enlightenment“ durch seine historische Bedeutung sich doppelt anbietet – mit seiner Funktion als Waffe. Ihre gefalteten Papiere schließlich enthüllen das Wissen, dass sie transportieren – als Spickzettel eben, auf Englisch „prompt“, aber auch als Beispiel kultureller Tradition (Japans, des „fernen Ostens“) – nicht. Vielleicht noch nicht, bis die Spannung überhandnimmt. Schon beginnt es sich an Stellen zu entfalten, zu befreien.

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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The Prompt. Curated by Adomas Narkevičius
09.09 - 15.10.2022

Gianni Manhattan
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