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Michèle Graf & Selina Grüter - Clock Work: Das Ei folgt dem Huhn, die Zeit folgt der Bahn

„Wir wussten gar nicht, dass die Räderwerke, die das Innere einer mechanischen Uhr ausmachen, im Englischen „movement“ (dt. Bewegung) genannt werden...“ beginnt der Text, der Michèle Grafs und Selina Grüters Arbeiten im Kevin Space begleitet. „...bis wir auf eBay nach Uhrenteilen suchten, um ein Riemenrad zu finden, das der Größe eines gewöhnlichen Gummibands entspricht.“ In diesem unschuldig-naiv anmutenden Ton geht es weiter, die Faszination für Kleinteiligkeit und Detail demütig voranstellend.

Auch die mechanischen Maschinchen selbst geben sich den Anschein von Niedlichkeit und Transparenz. Ihr Skelett liegt offen, nichts verdeckt das metallene Spiel von Räderwerken, Wellen und Achsen, alles in der Größenordnung allerhöchstens einer Wanduhr. Über ein Netzteil mit Strom versorgt, steht eine ständige Verbindung mit einem Sensor am ehemaligen k. und k. Nordbahnhof. Bei jedem dort vorbeifahrenden Zug setzt ein verbauter Empfänger hier einen Stromfluss in Gang und bringt Hämmerchen zum Klopfen, Mühlen zum Schaufeln und Ritzel zum Radeln. Für einen Moment, dann fällt alles zurück in seinen Dornröschenschlaf, bis mit dem nächsten Zug alles von Neuem beginnt.

Auf einfachen Podesten fristen die kleinen Skulpturen ihr Dasein, Gefangene des Systems solange die Nabelschnur aus Kupferdraht und Gummimantel nicht durch Eingriffe durchschnitten wird, sprich, der Stecker noch steckt. Das Kabel macht ein Abhängigkeitsverhältnis sichtbar: Hier werden die Uhren wortwörtlich nach der Bahn gestellt. Die Verbindung von Bahn und Zeit ist bekanntermaßen eine alte, und mitunter problematische. Die Industrialisierung der Welt verlangte einst nach einheitlichen Referenzen zur Organisation der Arbeitskraft. Doch erst die hohe Dichte des Gleisnetzes im 19. Jahrhunderts erforderte die Synchronisation von Zeit auch über große Distanzen hinweg. Die Zeit folgte gewissermaßen der Bahn.

Es ist also die nachhaltige Verstrickung von Zeit, Ort und der Bahn, die hier aufgezeigt wird – und was war die Bahn, wenn nicht Zeichen von Fortschritt und Kraft, Symbol einer neuen Zeit, Stolz von Nationen? Nun: furchteinflößendes Monstrum und Scherge des Kapitals, Speerspitze von Kolonisation, Fähre über den Totenfluss der Deportation. Die Mitte zwischen beiden Extremen sieht mit nüchternem Blick die Bahn vor allem als technischen Agenten, der investierte Energie kanalisiert und bündelt. In sie sind die geistig- und körperlichen Leistungen Vieler geflossen, jetzt leitet sie Kräfte auf Gleisen im Inneren und Äußeren. Energie, Kraft, Arbeit im ständigen Prozess. 

Der Titel „Clock Workentlarvt Ausstellungstext und Skulpturen als understatements. Nur das sichtbarste Moment des indexikalischen Verhältnisses – die Verkürzung des Raums durch Zugverbindungen und die Gleichzeitigkeit von Orten – wird explizit gemacht. Und natürlich der Mechanismus der Kraftübertragung. Es sind nur die Fackeln, hinter denen viel undeutlich bleibt, gleichwohl implizit ist. Die akkurate Pünktlichkeit – Abfahrt nach Fahrplan – und das reibungslose Ineinandergreifen aller Akteure ist dabei fragil: Stimmt die Bahn, stimmt die Zeit. Was aber ist mit Verspätungen? Kontaminationen? Zugverzögerungen und Störungen des Systems führen den Anspruch der absoluten Wahrheit und verlustfreien Übersetzung als Schein vor. Vielleicht fühlt man sich sogar an Einstein erinnert, der den Bahnsteig genauso auf den Zug zurasen lässt, wie umgekehrt und die Vorstellung absoluter Zeit als Luftschloss zerspringen ließ.

Die Ästhetik des Maschinellen und Funktionellen wird im Energieverlust ad absurdum geführt, verpufft doch die angeregte Bewegung der Mühlenblätter, Laufräder und Hammer wirkungslos. Als Maschinen verweigern sie Nutzen, ihre Logik ist stumpf, rein reaktiv. Nicht so als Skulpturen. Als solche geben sie Anstoß zum Weiterdenken. Die Übersetzungsarbeit geht im Publikum weiter. Wohin genau? fragt man vielleicht. Vielleicht aber braucht auch nicht ein jeder Zug ein Ziel.

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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Michèle Graf & Selina Grüter - Clock Work
10.09 - 29.10.2022

Kevin Space
1020 Wien, Volkertstrasse 17
Email: office@kevinspace.org
http://www.kevinspace.org/
Öffnungszeiten: Fr, Sa 15-18 h


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