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House of Losing Control: Gemäßigter Exzess

Einen Stuhl anzubieten, um ihn dann wegzuziehen - dieser geschmacklose Scherz löst in Bruce Naumans "Violent Incident" (1986) eine Spirale der Gewalt aus, die sich innerhalb von Sekunden entlädt und den Aggressor wie die Geschädigte schwer verletzt hinterlässt. Das Video, das im Loop auf einem Röhrenfernseher gleich hinter dem Eingang zum "House of Losing Control" läuft, bringt eine Intensität mit, die dem titelgebenden Motto gerecht wird, aber in der Folge kaum mehr erreicht wird.

Die zur Zwischennutzung freigegebenen Räumlichkeiten eines verlassenen Autohauses samt Werkstätten, Geschäfts-, Verkaufsräumen, Parkplatz und Waschstraße und ein ausgedientes Zinshaus mit Diskothek im Erdgeschoss bergen in ihrer Bandbreite an Raumtypen großes Potential und haben Flair, was sich die ausgestellten Arbeiten immer wieder zu Nutze gemacht haben. Sei es eben der alte Club, der von sich aus die Idee von Exzess und Kontrollverlust transportiert, aber auch von Sehnsucht und Sex, was Hannah Neckel zu einer prägnanten Arbeit veranlasst hat (Hyper Heart, 2021). Ihre an Stahlketten hängenden Epoxid-Herzen vor den schmutzigen Spiegeln der Tanzfläche und einem bemitleidenswert leuchtenden Neonlichtschlauch sind gleichsam rührend wie verrucht. Auch Hana Usui arbeitet für Fukushima - 10 Years Later (2021) mit dem gegebenen Ort. Gut möglich, dass sie den ehemaligen Gemeinschaftsraum der Arbeiter im jetzigen Zustand zwischen Verwahrlosung und Verwüstung vorgefunden hat. Umgestürzte Stühle, am Boden liegende Jacken, vor Spinden zurückgelassene Schuhe und ein eingeschalteter Fernseher, auf dem Aufnahmen aus Fukushima - nach der Atomkatastrophe - in Schleife laufen.  Das ist ein Bild, das für sich selbst spricht. Usui gelingt ein Naturalismus, der das Hinterzimmer voller Fischernetze, Sand und Knochenreste nicht nötig hätte.

Wenig mehr als Requisiten sind dagegen die bunten Fahnen der "Artists for Future", die den politischen Anspruch des Kollektivs unterbieten. Das Thema würde sich als Beispiel kollektiver Überforderung (und der des Ökosystems) durchaus anbieten und einem Vorwurf des "greenwashings" widerstehen, bleibt aber insgesamt nebensächlich, auch wenn (zu Recht) versucht wird, es durch Vorträge und Aktionen aktiv in die Ausstellung einzubauen.

Häufiger dagegen werden andere Facetten des Begriffs "Kontrolle" von den Künstler:nnen aufgegriffen. So ist zum Beispiel die psychologische Komponente bei Erwin Wurms Skulptur eines in sich verschlungenen Pullover-Menschen (Big Gulp Lying Psychos, 2010) oder bei Timotheus Tomicek vordergründig. Dieser stellt unser selbstsicheres Verständnis von Raum auf die Probe, indem er unsere Erwartung eines Spiegelbilds ins Leere laufen lässt und sich der erwartete Spiegel als clever gebauter Guckkasten entpuppt (Double Check, 2021). In Nora/Aaron Scherers Performance-Mitschnitt von Strip-Einlagen, die seitens des Publikums unterbrochen werden können, nur um zur nächsten Einlage überzugehen, wird nicht nur die Kontrolle über den Körper, sondern gleich die Möglichkeit von Partizipation und (fehlender) Handlungsspielraum mitverhandelt (There are certain rules, 2021). Interessant sind auch Fanni Futterknechts Überlegungen zum "Kritzeln" als eine Art der Verweigerung von Sprache und somit Befreiung von Konvention und Bedeutung (Kritzeln is an act of protest, 2021). Ähnlich auch - aber einem konträren Ansatz folgend - Christian Eisenbergers Testament das Zeichen eines ziemlich rigorosen Loslassens, aber auch rechtsgültiges Dokument ist !? (Allegorien, 2021).

Ein durchgehendes Motiv einiger Arbeiten ist die Einbeziehung des Zufalls. Sind die Werke dennoch präzise gesetzt, kann sich ein starkes Moment entwickeln, wie die räumliche Intervention des Vereins für Architektur, Kultur und Theorie, dessen Künstler:nnen durch das Durchbrechen massiver Wände neue Blickachsen und damit unfreiwillige Sichtbarkeiten geschaffen haben (AKT 5: Einbruch, 2021). Stellenweise aber gleitet das Stilmittel in die Beliebigkeit ab.

Daneben gibt es isolierte Positionen, die sich behaupten können (z.B. die kleinen Kabinette von Michael Lukas + Katharina Kostroubina und Cindy Sherman) und insgesamt ein großes Angebot, das vom langen Programm der Vienna Art Week an Vorträgen, Führungen, Performances und Atelierbesuchen mehr als ergänzt wird. Für eine Woche zeigt sich die ganze Wiener Kunstszene gebündelt. Das Versprechen ekstatischer Zustände löst das "House of Losing Control" aber nur selten ein.

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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House of Losing Control
14 - 19.11.2021

House of Losing Control
1020 Wien, Nordwestbahnstraße 53
https://www.viennaartweek.at
Öffnungszeiten: 14-19 h


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