Isabella Marboe,
Im Kosmos der Bild-Dichtung
"süße schauer überkamen uns. er grub sich ins eigene fleisch, verletzte sich, schnitt sich wunden, klaffte seine wunden auf,..." schildert Hermann Nitsch die Brus-Aktion "Zerreißprobe". Mit diesem krönenden Höhepunkt beendete Brus für sich das Kapitel "Wiener Aktionismus." Schon in den Notizen bahnt es sich an: "Eine nervliche Zerreißprobe bedeutet die jähe Änderung einer Handlungsrichtung, den abrupten Abbruch." Brus` Grenzen der Körperkunst waren erreicht, eine Steigerung unmöglich. Er kehrte zu Bild und Text zurück, stieß Kritiker vor den Kopf und blieb, was er war: ein radikaler Grenzgänger. Der aktionistisch-tabubrechende "Irrwisch", eine Vorform der "Bild-Dichtung" wurde 1971 zum Avantgarde-Kultbuch.
Das Zeug zum unverzichtbaren Standardwerk und Klassiker hat Johanna Schwanbergs "Günter Brus - Bild-Dichtung". Ständig an der Gratwanderung zwischen Handschrift und Zeichnung, Innen-und Außenwelt, Wirklichkeit und Imagination, Ein- und Mehrdeutigkeit eröffnen ca. 800 "Bild-Dichtungen" unzählige Lesarten, werfen immer neue Fragen auf. Immer ambivalent, treten sie vielgestaltig auf, variieren stark in Genese, Format, Farbe, Umfang, Duktus, Text-Bild-Korrelationen. Als Stilmerkmale destilliert Schwanberg Titel, Signatur, sequenziellen Charakter, Parallelkonzeption als Buch und Objekt der Bildenden Kunst heraus.
Die "Bild-Dichtung" ist kein Bruch, sondern logische Folge des Brus`schen Aktionismus. Formulierungen wie "Sehkörper", der fahrig-nervöse Strich, die Hand-Schrift: Brus agiert körperlich, arbeitetet exzessiv-manisch, prozessual, löst im Leser-Betrachter Reaktionen und Assoziationen aus. Genuin Brus`sche Wortschöpfungen und typische Bildmotive könnten für sich allein stehen. Verbunden durch die schreibend-zeichnende Hand beginnen in der "Bild-Dichtung" reflexive und nonverbale piktorale Ebene zu interagieren, alle Sinne zu beanspruchen, Grenzen zu sprengen, neue Dimensionen zu eröffnen.
Ähnlich funktioniert auch das Buch: Sehr umfassend, sprachlich und methodisch genau, analytisch nachvollziehbar eröffnet Schwanberg dem Leser aus kunst-und literaturwissenschaftlicher Perspektive Wege ins zwischen diversen Polen oszillierende Universum Brus`scher "Bild-Dichtungen." Die Lese-Betrachtung der abgedruckten "Bild-Dichtungen" wird so zu einer faszinierenden Reise mitten ins komplexe Brus`sche Weltgebilde. Ein Buch ohne Ende, das man immer wieder aufmachen, reflexiv-assozativ lese-betrachten muss.
Brus: "Die Kunst, nichts zu sagen, können alle.
Die Kunst, alles zu sagen, kann keiner.
Aber beides zu können behauptet der verwöhnte Artist."
Johanna Schwanberg
Günter Brus: Bild-Dichtungen
Springer Wien - New York, 2003
463 Seiten. Zahlreiche, zum Teil farbige Abbildungen. Format: 18 x 24 cm
Gebunden EUR 58,00
ISBN 3-211-83836-8
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