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Frankreich zwischen den Wahlen

„Die fehlende Mobilisierung als Gruppe bzw. die fehlende Selbstwahrnehmung als solidarisch führt dazu, dass rassistische Kategorien die sozialen ersetzen. Wenn die Linke die Mobilisierbarkeit der Gruppe löscht, dann rekonstituiert diese sich anhand eines anderen, diesmal nationalen Prinzips, anhand der Selbstwahrnehmung als 'legitime' Population eines Territoriums, das einem scheinbar weggenommen wird und von dem man sich vertrieben fühlt: Das Viertel, in dem man lebt, ist für das Selbstverständnis und die Sicht auf die Welt nun wichtiger als der Arbeitsplatz und die Position im sozialen Gefüge.“ Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, im Original immerhin schon 2009 erschienen, ist für die Haupt- und Staatsaktionen, die gerade Frankreich und in dessen Gefolge ganz Europa umtreiben, nach wie vor der Leitfaden. Madame Le Pen, mit allen Wassern des Ressentiments gewaschen, hat ihn sich konzentrierter vorgenommen als Monsieur Macron, dessen jugendlicher Elan so etwas wie unaufhaltsam scheint. Der Front National hat seine Wahlparty, nachdem klar war, dass seine Spitzenkandidatin es in die Stichwahlen bringen würde, in Hénin-Beaumont abgefeiert, einem Modellfall ökonomischer Zurückgebliebenheit, im deindustrialisierten Norden gelegen, wo die Führerin des Front National auf fast die Hälfte der Stimmen gekommen war. Macron hingegen schmiss seine Sause in der Rotonde, am Boulevard Montparnasse, gleich ums Eck von da, wo Sartre begraben ist, dort, wo die Austern appetitlich auf den Stellagen flanieren und die bevorzugte Waffe das Messer ist, sie zu öffnen. Das nennt man wohl Lagerwahlkampf. Man erkennt eine Spezies, das sagte der große Biologie Georges Buffon schon Ende des 18. Jahrhunderts, an seinem Gehäuse. Dabei ist Eribons Argument der Abgehängtheit nur zu einem Stück wahr. Es mag für die Orte an der belgischen Grenze zutreffen und für den notorisch problematischen Süden um Marseille herum. Nicht stimmt es für die dritte, man möchte sagen: Sumpfgegend, die Departements Richtung Deutschland, wo man splendid den kleinen Grenzverkehr pflegt und Madame doch mit mindestens einem Drittel der Stimmen bedachte. Hier haben die Leute Wohlstand genug, um nicht dauernd mit der wirtschaftlichen Minderbemitteltheit kämpfen zu müssen. Hier haben sie genügend Zeit, um auf dumme Gedanken zu kommen. Hier fühlen sie sich als Kulturstandsbewahrer und meinen gegen jene germanischen Barbaren das Bollwerk zu bilden, mit denen man ansonsten gute Geschäfte macht. Dass das Metier der Madame zu einem guten Stück Verlogenheit ist und nicht gar so viel Authentizität mit sich trägt wie Eribon meint: Hier ist es mit Händen zu greifen. Was schon ein wenig mitbedacht werden konnte, als die Österreicher es tatsächlich noch zu einem Präsidenten gebracht hatten, scheint sich nun zu bewahrheiten. Ein wenig ist das kleine Land nun Vorbild. Das mag die Mentalität betreffen, die in Frankreich wie in Österreich ein West-Ost-Gefälle losbrach: Der Osten fühlt Grenzmark-Attitüden in sich aufsteigen und wie die Elsässer und die Lothringer gegen die Germanen wappnen sich die Steirer und die Kärntner gegen die Slawen, während man im Westen eher die Weite der Welt gewahrt. Das mag die Demografie betreffen, die in Frankreich wie in Österreich ein Stadt-Land-Gefälle und daraus resultierend ein Bildungsgefälle bewirkt. Vor allem auch betrifft es das Ende der etablierten Parteien, die es zusammen auf ein Viertel der Stimmen bringen, und so steht letztlich einer rechtsradikalen Position eine polyglotte gegenüber, die es erfolgreich vermag, das Establishment in sich zu minimieren. Wie es aussieht, wird es auch ausgehen wie in Österreich. Eribon hat übrigens schon vor Macron gewarnt. Wenn der gewinne, werde Le Pen in fünf Jahren nicht mehr zu vermeiden sein. PS. Albert Uderzo ist gerade neunzig geworden. Ihm zu Ehren anbei eines der vielen Fundstücke aus dem Archiv der französischen Bilderinnerung, die er für seinen Asterix brauchen konnte. Honoré Daumier zeigt für den „Charivari“ 1848, wie zwei eingefleischte Republikaner, der Literat Victor Hugo und der Verleger Emile Girardin, versuchen, einen Politikneuling auf den Schild zu heben. Er heißt Bonaparte und gibt sich den Anschein eines demokratisch gewählten Präsidenten. Drei Jahre später ruft Louis Bonaparte das zweite Kaiserreich aus. Girardin passt sich an, Hugo geht ins Exil.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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