Rainer Metzger,
Carnival
Der bedeutendste London-Roman der Zeit um 1960 ist „Absolute Beginners“ von Colin MacInnes. Eine neue Lebenshaltung hält er fest, Gefühl und Gefühle einer urbanen Jugend, die soeben beginnt, ihrer selbst bewusst zu werden. Sein Held, der Ich-Erzähler, ist gerade einmal neunzehn, er lebt sehr auskömmlich vom Fotografieren und fühlt sich wie der Fisch im Wasser einer Gesellschaft, die den Konsum entdeckt. Geschickt hat MacInnes die Klassen- in einer Rassenproblematik aufgehen lassen; Fragen, wie plausibel es ist, dass einer, der seinem rechtlichen Status nach ein Kind ist, sich äußerst bequem im Großstadtdschungel behauptet, werden nicht gestellt. „Absolute Beginners“, publiziert 1959, ist ein Entwicklungsroman, er erzählt von der Karriere eines völligen Newcomers und er liefert die Eingangssequenzen in der Erfolgsstory des schwungvollen London. Jugend, Wohlstand und Massenmedien setzen die Koordinaten. Konventionell ist, dass die Jugendkultur dieser Jahre einwattiert bleibt in die Ambitionen und Ängste der Erwachsenen. MacInnes ist 45, als sein Buch erscheint. Das Aufbruchsgefühl ist nicht gerade authentisch.
Mit einer bezeichnenden Ausnahme. Zu Beginn von „Absolute Beginners“ will der Protagonist seine Stadt verlassen. Die Stadt, London, in die es alle zieht. Was den Erzähler aus der Bahn seiner Metropole, seiner Mutterstadt, geworfen hat, ist eine ganz reale Begebenheit, und auch dem Autor MacInnes steckt sie in den Knochen. In den Tagen und vor allem Nächten Ende August/Anfang September 1958 hatte es im Stadtteil Notting Hill Rassenunruhen gegeben, Ausschreitungen zwischen alteingesessenen Weißen und Einwanderern vor allem aus der Karibik, die in die billigen Wohnviertel drängten, eingeladen und ausgenutzt von Immobilienspekulanten, die es nicht weiter betraf, wenn die Konflikte, die sie geschürt hatten, auf der Straße ausgetragen wurden.
Bisweilen allerdings hält die Historie ja doch einen Trost bereit. Ach Jahre darauf, in den späteren Sechzigern, mit dem Aufkommen von Underground und anti-autoritärer Emphase, wird Notting Hill jedenfalls zum Schauplatz einer anderen Demonstration dessen, was in gemischten Ethnien passieren kann: Der Notting Hill Carnival, an jeweils zwei Tagen um Bank Holiday Ende August abgehalten, gibt seit 1966 einen Vorgeschmack darauf, was als Multikulturalität firmieren kann, Lebensfreude etwa oder Buntheit.
Notting Hill Carnival 2016, Foto: Jonathan Cardy - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=50966323
An diesem Wochenende ist der Karneval mitten im Sommer, mit karibischer Atmosphäre und einer Ahnung von Rio, zum 50. Mal abgehalten worden. Wie in den Jahren zuvor gab es viel Love, Peace and Harmony. Wie in den Jahren zuvor gab es Festnahmen auch. Die Lemuren von der Species der Brexits blieben immerhin auf ihren Bäumen. London versteht sich ohnedies mehr und mehr als Insel auf der Insel. Der Notting Hill Carnival rankt sich darum als fragiles Atoll.
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