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The Summer of Sixty-Nine

Frank Witzel und sein Roman zum politischen Jugenderwachen

"Wir sind eins" steht großformatig zu lesen. Das Banner durchquert nahezu die ganze Halle, ist gut 15 Meter lang. Im fernsehtauglich gerundeten Eck des Untergeschoßes in Halle 3 gibt Frank Witzel ein Kurzinterview. Menschen und Gesichter blinzeln im Neonblau der ARD. Die Kameras schleichen um den frisch gekrönten Autor, drehen Kurven wie die schnittigen Leuchtröhren an der Wand. "Wir sind eins" müsste an diesem Nachmittag auf der Frankfurter Buchmesse in "Ich bin viele" umgetauscht werden. Die Geschichte, mit der der 1955 geborene Witzel den Deutschen Buchpreis gewinnt, handelt von einem Jugendlichen im Jahr 1969, genauer im Sommer 1969. Seine Übungen in Richtung Reife führen ihn über die Umwege der Fantasie, des realitätsverzerrenden Spiels, der halbstarken Imagination. Er wird zum Erfinder einer/seiner – wie sich im Laufe der Lektüre abzeichnet – mehrschichtigen Identität. Und dennoch geht es um mehr als nur um Ichfindung, die literarisch genügend Vorbilder besitzt, z.B. bei Thomas Mann, James Joyce oder Robert Musil. Es geht um Politik und die Frage der Erkenntnis im Zeitalter heftiger, gesellschaftlicher Umwälzung in Deutschland. Darum der umständliche Titel: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969". Das Cover zeigt einen Beatles-Pilzkopf, Hinweis auf die Bedeutung der Musik, die Witzel als Reformmotor der Zeit hervorhebt. Der Erzählstrang hat keine feste Zeit, – immer wieder gibt es Rückblicke, Zeitschnitte, Gegenwartswechsel – jedoch einen benennbaren Ort. Wir befinden uns in Wiesbaden-Biebrich. Ein lieblicher Vorort mit Schlosspark und barocker Kleinresidenz am Rheinufer, doch auch Zone voll roher Industrie, Chemie, Beton und mieser Luft. Zwei Fixpunkte nimmt der 13-Jährige zur Ein-Nordung seiner erwachenden Individualität. Das sind Terror und Religion. Der Terror und die Politisierung der Gesellschaft vermitteln sich in der raschen Taktung der Medien, allen voran der Nachrichtenkultur im jungen Medium Fernsehen. Die Religion zeigt ihre Verfassung in den Lehrgebilden der Tradition. Kaum nötig zu sagen, dass es sich um unterschiedliche Zeitbedingungen handelt, die ungebremsten Schubkräfte pulsierender Umsturzversuche auf der einen und die nachhaltige Schulung des Katechismus auf der anderen Seite. Für die Lektüre wird kennzeichnend, dass es zu Überlagerungen zwischen den inkompatiblen Sphären kommt. Querschreiben müsste man diese kluge Technik nennen und eine weise Kunst der erzählerischen Parallelverschiebung, die Identitäten und Zuordnungen brechen lässt. Polyperspektivität und Verschneidung wachsen sich bis zu Deckungsgleichheiten aus. Witzel ortet eine übereinstimmende Ikonografie und nennt als Beispiel die Körperbehandlung. Die zotigen Haare des leidenden Christus und seine verletzliche Nacktheit entsprechen passgenau den zeitgemäßen Modecodes der Revolutionshelden von Subkultur und RAF. Das Antiestablishment aufmüpfiger Jugend ist jedoch nicht ästhetisches Zeichenspiel, sondern ernst und bis heute gesellschaftsmodifizierend. Ausgangspunkt ist das reformationsbereite Individuum, die heroische Selbstbeauftragung. Es geht um die Herausforderung, sagt Witzel, sein eigenes Leben so weit zu treiben, dass der Ausstieg unausweichlich wird. Revision ausgeschlossen. Andreas Bader hätte mit seinem Fenstersprung den Sprung in die Illegalität eingeleitet. Witzel bringt das Manifest Kierkegaards ins Gespräch, den Sprung in die Religion, und mit Leibniz' Überlegungen zum Sprung in der Naturwissenschaft einen weiteren unverbesserlich Gläubigen. Auch das Buch kennt philosophische Exkursionen. Sie sind systematische Verallgemeinerung und erinnern den Leser bei aller historischer Erzähltreue an den gegenwartsrelevanten Subtext. Das Buch konnte wohl nur jetzt geschrieben werden. Das ist seine Stärke. Auch wenn man zeitweilig wünschte, es hätte nicht diese Brisanz gewonnen. Zum Beispiel bezüglich des Wechselspiels von Terror und Religion. Doch Witzel lässt sich daraus kein Vorwurf drehen, zu lange feilt er schon an den 800 Seiten. Zudem weiß er vorschnelle Botschaften und Moralverweise zu unterbinden, elegant findet er stattdessen zu den Details erfundener Tatsachen zurück, zum Beispiel durch Abschnitte mit Polizeibefragungen oder einem eigenen Statement als Autor, der sich selbst im Buch als Zeuge zitiert. Die RAF und die Nachrichten waren grau, sagt er grell beleuchtet vom Bühnenlicht und irritiert vom fotografischen Blitzgewitter und meint nun seine eigenen, persönlichen Erinnerungen. Informationen waren düster und unbehaglich, weit entfernt von so manchen süßlichen Nostalgieversuchen, die heute aus politischer Subkultur Modegimmicks machen wollen. Nein, sagt Witzel – und in seinem Statement blitzt ein Rest des Sendungsbewusstseins dieser Generation auf – er hätte das anders erlebt als manche, die heute von der "Prada-Meinhof Gruppe" sprechen. Tatsächlich ist dies ein Dokument eines Zeitzeugen, der es versteht, Mentalität und Realität so zu verzahnen, dass es trotz seiner literarischen Erfindung die verbriefte Geschichtswahrheit an Glaubwürdigkeit übertrifft. Das ARD Messe-Studio strahlt im hygienisch-kühlen Blau einer Zahnarztpraxis. Der Chronist Frank Witzel findet sich in der Bluebox der Fernsehnachrichten wieder. 

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, Verlag Matthes & Seitz Berlin 2015.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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