Rainer Metzger,
Zeit
Wer sich darüber grämt, dass sein irdisches Dasein endlich ist, sollte Jorge Luis Borges` Geschichte „Der Unsterbliche“ lesen. Darin ist von den Troglodyten zu lernen, den Höhlenbewohnern, die in alle Ewigkeit existieren. Weil sie jede Erfahrung, die es überhaupt gibt, irgendwann einmal macht, liegt die Gruppe der Infiniten im Sand: „Belehrt durch jahrhundertelange Übung“, so Borges, „hatte die Gemeinschaft der Unsterblichen die Vollendung der Duldsamkeit, ja der Nichtachtung erlangt. Sie wußte, daß innerhalb eines unendlichen Zeitraums jedem Menschen alles widerfährt.“ Die Trogolyten hängen herum, und anders als die vielen, die das auch so machen, haben sie einen guten Grund für die Verweigerung von Tätigkeit. Irgendwann passiert ohnedies alles.
Borges' trostreiche Episode wird in Rüdiger Safranskis neuem Buch nicht erzählt. Dabei hätte sie wunderbar in mehr oder weniger jedes seiner zehn Kapitel gepasst. So sind sie überschrieben: „Zeit der Langeweile“, „Zeit des Anfangens“, „Zeit der Sorge“, „Vergesellschaftete Zeit“, „Bewirtschaftete Zeit“, „Lebenszeit und Weltzeit“, „Weltraumzeit“, „Eigenzeit“, „Spiel mit der Zeit“ sowie „Erfüllte Zeit und Ewigkeit“. Ganz Philosophenonkel, der er seit langem ist, sitzt Safranski im Lehnstuhl einer soignierten Bildung und liefert altersgemäß eher Anekdoten als Analysen. Seine Gewährs- sind dabei die Landsleute, denen er sein Oeuvre der letzten Jahrzehnte gewidmet hat, Schiller und Goethe, die Romantiker, Nietzsche, Heidegger.
„Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ lautet der Titel dieses perfekten Seminars für Seniorstudenten. Entsprechend zieht sich ein Subtext durch Safranskis Räsonieren. Der lautet vorhersehbar „früher war alles besser“ („So entsteht die aufdringliche Gegenwart einer globalisierten Realität als Erregungstheater“, heißt es etwas auf Seite 101). Dass er es für nötig erachtet, sein Buch unter die Ägide eines gerade für das Heute offenbar unvermeidlichen W-Fragen-Titels zu stellen, macht die Sache nicht aktueller. Sie macht sie eher zeitlos: Safranski erfasst sein Phänomen über die Wirkungen, schließlich sind Taktung und Taktilität, Beschleunigung und Beschlagnahmung die Modi, in der wir seiner bewusst werden.
Ein wenig sterben Lernen will er einem dann auch beibringen. Die Lektion besteht darin zu akzeptieren, dass der Bedacht aufs individuelle Leben seinerseits kulturell bedingt ist und man ja das Große Ganze in den Blick nehmen könnte, das im Kreislauf des Lebens und der Möglichkeit ewiger Wiederkehr besteht. „Die zyklische Zeit ist die organische Zeit“ heißt es ganz am Ende. Letztlich besteht der Reiz des Buches in seiner Lesbarkeit analog dazu. Die Kapitel fügen sich zum Loop, denn am Schluss, wo es um die Ewigkeit geht, lauert der Prolog, die Einführung in die Langeweile. So liefert Safranski eine Art performativen Begriff von Zeit. Und die Geschichte, die die Zeitschleife vollenden hälfe, wäre diejenige von Borges. Zurück zum Anfang.
Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir uns ihr machen, München: Hanser 2015
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