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Utopisches Potenzial

Anspruchsvoller hätte das Motto des Kunstfestival "48 Stunden Neukölln" kaum sein können: S.O.S. - Kunst rettet Welt. Nicht weniger anspruchsvoll war das Format mit 280 Beiträgen und circa 100 teilnehmenden Ateliers, Galerien und Projekträumen, die sich auf acht ausgewiesene Quartiere verteilten. Die zwölfköpfige Jury folgte bei der Auswahl der Teilnehmer und Beiträge dennoch nicht verbissen dem von Janine Hönig inspirierten Motto. So zeigte sich das Programm nach wie vor offen, für ein breites Spektrum an Formen kreativen Ausdrucks und blieb für die Besucher niederschwellig. Der Kulturjournalist Matthias Reichelt, der für die Festivalzeitung unter dem Titel World gone wrong einen kurzen Essay verfasste, bettete dennoch das Leitmotiv kritisch ein, wohl wissend dass nicht Kunst, sondern nur Menschen Maßnahmen zur Rettung der Welt unternehmen können. Immerhin mag die Kunst aus seiner Sicht Denkräume eröffnen und genau dies leistet auch die zentrale Ausstellung des Festivals in den Neukölln Arcaden, das unter der Leitung von Martin Steffens und Thorsten Schlenger 2015 zum 17. Mal stattfindet. Im 1. Stock des belebten Einkaufszentrums stand ein großes Ladenlokal für eine Gruppenausstellung zur Verfügung, die den Blick auf eine ganze Reihe bekannter und weniger bekannter Probleme in der Welt lenkte. Besonders beeindruckend war der Nachbau eines Wohnraums aus einem Berliner Flüchtlingswohnheim. Das Doppelzimmer der Flüchtlinge Dakel aus dem Iran und Mawlud aus Syrien, hatte hier im Nachbau unter dem Titel Kunstasyl gläserne Wände, womit nicht nur der unmittelbare Mangel an Privatheit sichtbar wurde. Diese Situation vermittelte indirekt auch die systematische Durchleuchtung der Biografie, die einen Asylantrag in aller Regel begleitet. An beiden Tagen des Festivals konnten Besucher zudem an einer 48-minütigen Bustour teilnehmen, wo sie mit an Bord befindlichen Flüchtlingen aus unterschiedlichen Regionen der Welt ins Gespräch kommen konnten. Barbara Caveng hatte in Zusammenarbeit mit den Asylsuchenden diese Plattform für Kontakte geschaffen. Auch bei Kathrin Ollroge kreiste die künstlerische Arbeit um das Thema Flüchtlinge. Sie reiste mit ihrem mobilen Raum für Gedanken durch brandenburgische Ortschaften und befragte Einheimische und Asylsuchende zum Thema Flucht und Flüchtlinge. Die Stiftung eines kommunikativen Austauschs steht also auch hier im Vordergrund und war vielleicht auch das eigentliche Hauptanliegen des Festivals. Dazu passte auf ganz andere Weise auch die Arbeit der sechs Künstler des Kollektivs Club mantell. Ihre Intervention Art for a promise bestand im Angebot, künstlerische Arbeiten als Gegenleistung für die Einlösung eines Versprechens zu erhalten. Wer also eines der Kunstwerke erwerben wollte, konnte eine Tätigkeit nach eigenem Belieben anbieten, wobei aber tendenziell ein sozialer Beitrag erwünscht war. Nicht zuletzt im Wettbewerb unterschiedlicher Angebote entschied der betreffende Künstler selbst, ob und welches Angebot er akzeptierte. Judith Weißig erläuterte "es geht auch darum, eine andere Form des Tauschens zu verwirklichen, als beim Prinzip Geld gegen Ware. Es kommt ein persönlicher Bezug zustande." Auch das in Berlin ansässige Curiosity Collective beschäftigte sich mit dem Warenaustausch, allerdings mit der Schattenseite globalisierter Wirtschaft. Wir machen das nur gegen Kohle wirft einen kritischen Blick auf den Kohleexport aus ihrer kolumbianischen Heimat, nicht zuletzt nach Deutschland. Unter Verstoß gegen Sozialstandards und unter Inkaufnahme erheblicher Umweltzerstörungen beliefern Firmen wie Glencore deutsche Stromkonzerne. Für die bitteren Konsequenzen in ihrem Heimatland fanden Julian Santana, Daniel Poveda und Katherine León ausgesprochen ikonisch wirkende Bilder. Und auch bei der Bühnenbildnerin Lena Heeschen wendete sich der kritische Blick in die Ferne. Ihre Installation Four weeks in Palestine widmete sich unter anderem der Mauer zwischen Israel und Palästina, die von einem Besucher mit dem Kommentar gewürdigt wurde "die hält die Terroristen raus aus Israel". Das am Ende vielleicht allein Superhelden in der Lage sind, sich diesen Problemen zu stellen, zeigen dann noch Bilder von Schülern der 7. Klasse der Röntgenschule. In ihrer Real Life Superheldenzentrale stößt man allerdings auch auf bislang noch unbekannte Heroen wie Güney boy. Das Programm "Junge Kunst NK" war somit auch hier vertreten und warb für die beteiligten Schulen und Jugendprojekte. Wer den Weg auf das Parkdeck in die fünfte Etage fand, bekam bei großartigem Blick auf das Berliner Stadtpanorama unter dräuenden Gewitterwolken noch eine zweite Gruppenausstellung geboten. Der Titel Rette sich wer Kunst durfte als ironische Replik auf das Motto des Festivals verstanden werden, wie Kuratorin und Künstlerin Ana Baumgart erläuterte. Sie sprach sich explizit gegen das Motto und die damit einhergehende Verwendung von Kunst als Heilmittel aus und brach eine Lanze für das Prinzip l'art pour l'art. Nichtsdestotrotz bot auch ihr Projekt, einige Werke, die eine Auseinandersetzung mit politisch-gesellschaftlichen Fragestellungen verrieten. Dazu zählte Franz Reimers Justice has been done!, ein circa achtminütiger Film basierend auf Fotografien des Situation Rooms im Weißen Haus mit den wichtigsten politischen Protagonisten der USA während des Kommandos zur Ergreifung von Osama Bin Laden in Pakistan 2011. Vom anderen Ende des Parkdecks erschallte dann zwischenzeitlich die russische Nationalhymne als Teil von Julian Öfflers Film Reise nach Kiew. Dieser 23-minütige Film wurde im zugehörigen kleinen Katalog als kritische Reflektion über affirmative Aspekte politischer Kunst vorgestellt. Von diesem Ort aus führen Wege in alle Richtungen Neuköllns zu den weiteren Schauplätzen, wie dem für Berliner Verhältnisse fast zu heimeligen Richardplatz, mit einem alternativen Kunst-Markt unter dem Titel riXXperiment oder in Gegenrichtung in den nach wie vor populären Reuterkiez. Wer hier am Samstag vom Straßenfest auf der Reuterstraße vor dem niederschüttenden Regen in den Hilbert-Raum flüchtete, konnte so in einer kleinen Kammer einen der vielen interessanten Beiträge des Festivals entdecken. Ulu Brauns fantastische Hommage an David Lynch, Tower of Invincibility, der sich auf die verlassene Abhörstation der USA auf dem Teufelsberg bezog, erinnerte an das utopische Potenzial, das Berlin gegenwärtig vor allem in einem Stadtviertel verkörpert: Neukölln. www.48-stunden-neukoelln.de
Mehr Texte von Thomas W. Kuhn

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