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Günter Grass 1927 – 2015

Der junge Mann war „bettelarm“. So notleidend, dass Walter Höllerer, einer der Mentoren der deutschen Nachkriegsliteratur, zu dem Kürzel „-ck“ griff, um unter diesem Incognito in der Frankfurter Allgemeinen eine Kunstausstellung zu rezensieren. Am 21. November 1955 erschien Höllerers Artikel mit dem Titel „Das Knochengerüst der Dinge. Günter Grass-Ausstellung in Stuttgart“. Aufmerksam war der Kritiker auf den gerade 28jährigen Newcomer durch dessen Gedicht „Lilien aus Schlaf“ geworden, publiziert in den „akzenten“, Grass hatte sich mit dem Poem um den Lyrikpreis des Süddeutschen Rundfunkts beworben. Er wurde Dritter, der Sieg ging an die heute völlig unbekannte Christine Busta, zweiter wurde, Ironie des Kulturbetriebs, Wieland Schmied, den man in Folge eher der bildenden Kunst zuordnete. Egal, unter den Umständen eines Lebens der Bohème war für Grass, die Doppelbegabung, die nie Schreiben, aber Steinmetz in Düsseldorf gelernt hatte, das Geld in allen Sparten kostbar. In Großholzleute, bei der Tagung der Gruppe 47, die fortan die belletristische Zukunft absteckte, sollte Grass dann der werden, der er war. Hans Werner Richter, der Impresario der Veranstaltung, erinnert sich an die Lesung, bei der Grass zwei Kapitel aus jenem Roman vorstellte, der als „Blechtrommel“ dann mehr als 40 Jahre später für den Nobelpreis gut sein sollte. Grass war immer noch „bettelarm“ in jenem Jahr 1958, und so wurde der Preis, den die Gruppe anfangs ausgeschrieben, aber seit 1955 nicht mehr vergeben hatte, reaktivert. Siegfried Unseld, der personfizierte Suhrkamp-Verlag, machte 500 Mark locker, Schrifstellerkollegen und anwesende Lektoren riefen bei ihren Häusern an und bettelten Weiteres zusammen, und so wird im entscheidenen Augenblick ein Star geboren. „Grass“, schreibt Richter, „steht draußen in einem schmalen Gang an der Theke des Gasthofes und jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeikomme, sage ich: 'Noch mal 500 Mark mehr', und er lacht, trinkt einen Schnaps darauf, und als ich zum letzten Mal an ihm vorbeikomme – nun sind es fünftausend Mark -, lacht er noch immer und lacht und lacht.“ Grass wird den bunten Zusammenkünften, die längst die literarische Institution schlechthin geworden waren, dann eine Art Nachruf hinterherschreiben, 1979, als die Tagungen der Gruppe 47 längst vom telegeneren Bachmann-Preis in den Schatten gestellt waren. „Das Treffen in Telgte“ stellt in wunderbarer Geschichtskontrolle eine Parallele her zwischen der historischen gewordenen Kadertruppe von 1947 und einem Dichterkränzchen des Jahres 1647, bei dem sich im Umfeld des Westfälischen Friedens Barocklyriker ein – fiktives – Stelldichein geben. Zusammen mit der „Blechtrommel“ ist „Das Treffen in Telgte“ Grass' bestes Buch. Die Öffentlichkeit, die ihm seit den späten 50ern sicher war, hat Grass dann unaufhörlich beschäftigt. Er hat Wahlkampf getrieben, hat angeeckt, wollte Zeitgeist spielen und verlor sich in jenen Altmännerrankünen, mit denen die alte Bundesrepublik bis heute nachdrücklich geltend macht, dass sie erst seit 25 Jahren tot ist. Zur Jahrtausendwende hatte Grass auf „Mein Jahrhundert“ zurückgeblickt, Jahr für Jahr von 1900 bis 1999 wurde eine Episode herausgegriffen und aus der Perspektive eines Beteiligten nacherzählt. Für 1910 stand die Dicke Berta von Krupp im Mittelpunkt, für 1924 der Zeppelin, für 1953 der 17. Juni, teils per Haupt- und Staatsaktion, teils beiläufig gegenständlich in heiterer Mischung. Für das abschließende 1999 bemüht Grass den Blick seiner Mutter, und sie erzählt von ihrem Leben. Die letzten Zeilen des letzten Kapitels aus Grass` Memoiren eines Säkulums gehen so: „Und auf 2000 freu ich mich auch. Mal sehen, was kommt … Wenn nur nicht Krieg ist wieder … Erst da unten und dann überall ...“. Grass ist seinen Tunnelblick auf den Krieg nicht losgeworden. Als Intellektueller blieb er dem Ausnahmezustand, den die großen Gefahren des großen Schlachtens bedeuten, verhaftet. Es war ihm vergönnt, inmitten dieser Sonderrationen der historischen Umstände immer wieder zu lachen und zu lachen und zu lachen. Bisweilen konnten wir mitlachen, Am Ende immer weniger. Nun ist Günter Grass, der dem schlechten Gewissen der Deutschen die volltönendste literarische Stimme gab, im 88. Lebensjahr verstorben. Günter Grass - Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann
Mehr Texte von Rainer Metzger

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