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Leerstelle

Um halb eins am Mittag ist die Anzeigentafel fotografiert worden. Bei manchen der Abbildungen, wie sie jetzt den Zeitungen den Aufmacher liefern, ist die Germanwings-Maschine aus Heathrow im Anflug, bei anderen hat sie schon sicheren Boden unter den Füßen, ebenso wie die Flieger, die aus Athen, Wien, aus Istanbul oder den Emiraten angekommen sind. Zwischen Plan und Erwartung liegen höchstens ein paar Minuten, die man schläfrig oder mit steifen Gliedern in seinen Sitzen, freudig oder professionell als Empfangskommando am Boden absolviert. Doch inmitten all der Routinen bringt sich ein Schriftzug zur Geltung, der auffällt, weil er eine Lücke enthält. „4U9525“ von Barcelona, nach Plan um 11:55 im Flughafen in Düsseldorf anzukommen, zieht einen Streifen hinter sich her, der keine Lettern enthält, keine Ziffern und keine Punkte. Was zu sehen ist, prangt als Freiraum, nichts ist zu lesen, und bald wird klar, dass dahinter das Nichts lauert, der Umschlag einer versagten Information in die Metaphysik der Verzweiflung. Selten hat ein Bild in seiner nüchternen Verwaltungsästhetik soviel von einem Darüberhinaus erzählt wie jenes von der Hinweistafel am Düsseldorfer Flughafen. Wäre der Text, den sie zeigt, Literatur, müsste man die nicht stattfindende Mitteilung, die gerade dadurch so beredt wird, „Leerstelle“ nennen. Wolfgang Iser, der Begründer der Rezeptionstheorie, hat den Begriff geprägt: Gemeint sind Segmente, „die die erwartete Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ Was auf derTafel zu sehen ist, wäre nun die himmelschreiendste aller Unterbrechungen einer erwarteten Ordnung. Auch die Bilderwelt der Kunst arbeitet vielfach mit Leerstellen. Bisweilen ist der Thron verwaist, auf dem der Gott der christlichen Fasson normalerweise sitzt: Man nennt die Formel „Hetoimasie“, sie tritt auf bei Darstellungen des jüngsten Gerichts, denn der Herrscher über Gut und Böse ist dann gerade unterwegs, um Himmel und Hölle einzuteilen. Hans Sedlmayr, der der Moderne ja nichts Ignoranteres als Gottlosigkeit in Rechnung stellte, hat das Schlusskapitel seiner Bannbulle vom“Verlust der Mitte“ eben „Hetoimasie“ überschrieben. Seither geistert durch die Kunstgeschichte etwa die Idee, die beiden Stühle, die van Gogh in seinem gelben Haus in Arles porträtierte, seien leere Throne. Auf ihre Art, van Goghs Biografie legt es nahe, künden sie jedenfalls vom Tod. Leerstellen, der Horror Vacui vom Himmel durch die Welt zur Hölle: Beenden wir diese Überlegungen mit einigen Sätzen aus Georg Büchners „Lenz“, insgesamt eine der Gründungsschriften moderner Befindlichkeit: „So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand lächerlich drin, einfältig ... Es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: er war im Leeren! Er riß sich auf und flog den Abhang hinunter … Breite Flächen zogen sich in die Täler herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien und weiter hinaus die weite rauchende Ebene... Es verschmolz ihm alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwischen Himmel und Erde.“ Es ist nur eine Wanderung durch die Vogesen, die Büchner beschreibt. Doch wie neuartig fremdartig wird diese Welt durch die krude kosmische Anmutung die uns nur allzu real vorkommt.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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