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Selten gehörte Musik

Anfang November 1972 hatte der „1. Berliner Dichterworkshop“ stattgefunden. Beteiligt waren an ihm diverse Herren, deren Provenienz man eher weiter südlich verorten würde: Günter Brus, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner. Im März darauf wurde das Ergebnis als Band 9 der „Schastrommel“, dem „Organ der Österreichischen Exilregierung“, publiziert. In der Folge trafen sich immer zahlreichere der notorischen Mehrfachbegabungen, um zu dichten, zu musizieren, zu zeichnen. Zu einem Workshop sollten im Dezember 1975 Brus und Rühm zu denen sich die zusätzlichen Kunstgrößen Christina Ludwig Attersee, Hermann Nitsch und Dominik Steiger sowie Dieter Roth gesellten, in Oswald Wieners Wohnung über dem Berliner „Exil“ am Paul-Lincke-Ufer zusammen. Blätter gingen reihum, jeder lieferte seinen Beitrag. „Der Roth“, erinnert sich Attersee, „hat zum Schluss dann noch ein Wurstradl auf jedes Blatt gelegt, das gab schöne Abdrücke. Alle Arbeiten waren voller Fettflecken, es war trotzdem lustig, und all das war immer von Alkohol begleitet.“ Dieter Roth, dessen Name bisweilen auch zu einem der Wiener Gruppe abgelauschten diter rot kondensiert war, brachte speziell das Ephemere ein, das Überbordende und das Fließende, wie es Fluxus, die Internationale der Avantgarde um 1960, auszeichnete. 1930 in Hannover geboren, war er Schweizer Staatsbürger, doch ein Kosmopolit mit Wohnsitz zeitweise in Island. Wie wichtig ihm Gemeinschaftsarbeiten waren? „Sehr wichtig“, so gab er mir einst im Interview zu verstehen: „Weil ja doch jeder nur seinen engen Bereich hat, der verbessert werden muss. Man kann sich darauf verlassen, wenn man dumm rumschmiert an einem Bild, dass der andere kommt und es in Ordnung bringt. Er muss aber Talent haben.“ Und ob Roth findet, dass er selber ein solches Talent besäße? „Nun, ich tue so, als wäre meine Arbeit etwas Großartiges. Talent haben besteht darin, die anderen neidisch zu machen. Und nachdem ich auch beneidet werde, muß ich doch Talent haben.“ Bei einem der Berliner Dichterworkshops, bei dem man im Juli 1973 in Daniel Spoerris Wohnung zusammengekommen waren, hatte man zu musizieren und zu improvisieren begonnen. Daran erinnert sich Gerhard Rühm: „so kam eine mehrschichtigkeit zustande, die aufeinander eingespielte, in gemeinsamem stil musizierende improvisationsgruppen selten erreichen. stillosigkeit also als unmittelbares ausdrucksprinzip, andererseits unbekümmerte verwendung musikalischer zitate und spielformen – musik über musik“. Der Slogan „Selten gehörte Musik“ war schnell ausgedacht, und am 28. Mai 1974 gab es das erste öffentliche Konzert in Münchens Städtischer Galerie im Lenbachhaus mit Wiener, Rühm, Roth, Brus und Nitsch. Ob des Erfolgs wurde sogleich das nächste in Angriff genommen, diesmal in Berlin und mit Rainer, Steiger sowie Attersee um drei Freunde erweitert. Für den Auftritt in der Kreuzberger Kirche zum heiligen Kreuz hatte man eigens runde Plakate gedruckt, auf denen jedem der Beteiligten ein Kreissegment zur Gestaltung zugeteilt war. Als Programmheft stand jedem eine A4-Seite für einen Beitrag zu Verfügung, die Drucksorten wurden zudem durch eigene Manschetten für Pilsgläser vervollständigt. Zwei Tage danach traf man sich im Kunstverein Kassel gleich wieder. Eine Folge von sporadischen Treffen ergab sich die nächsten Jahrzehnte. Aus der LP "Selten Gehörte Musik 3. Berliner Dichterworkshop" (Edition Hansjörg Mayer) 1973 Am heutigen Donnerstag geht die illustre Runde in eine weitere Lebensphase. Zur Erinnerung an Dieter Roth gibt es an der Musik-Akademie in Basel eine Neuauflage. Die Kombattanten, Attersee, Rühm, Nitsch, Wiener, loten aus, was übrig geblieben ist von ehedem. „Kann jemand hier Klavier spielen?“ lautet nicht ohne Abgründigkeit im Wissen um die eigene Verfassung das Motto. Die selten gehörte Musik wird zunehmend seltener zu hören sein. www.musik-akademie.ch
Mehr Texte von Rainer Metzger

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