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In fünf Milliarden Jahren

Die Sonne wird sterben, bis dahin kein Ende des Kapitalismus in Sicht


Koo Jeong-a: Thinking of U from the Eastern Coast, 2004, Lettraset, Filzstift / Recyclepapier Unique, 14,20 x 20,75 cm evn sammlung, Maria Enzersdorf

Heute ist Bloomsday. Daran sollte im 110. Jahr seiner Wiederkehr erinnert werden. Obwohl das Datum (16. Juni 1904) nachweislich verstrichen ist und manche Straßen in Dublin noch so heißen wie damals, der Tag ist Fiktion. Was wird eigentlich gefeiert? Welchen ontologischen Status besitzt ein Kunstwerk? Welchen seine dargestellten Ereignisse? Über einen ähnlichen Aspekt machte sich schon Richard Wollheim einmal Gedanken, – in seinen Überlegungen zur Objekthaftigkeit der Kunst. Seine Frage: was ist eigentlich das literarische Werk? sind es die ersten handschriftlichen Notate des Autors, das korrigierte Manuskript oder die Freigabe vom Verlag, die Erstausgabe, alle seine Übersetzungen oder das Erlebnis nur eines einzigen Lesers? Nun, am Montag vor vier Wochen wurde an dieser Stelle über Archifossile räsoniert, über enigmatische Zeiten und Wesen, die vor der menschlichen Erfahrung liegen. Der Gedanke stammt von Quentin Meillassoux, der seine Idee des spekulativen Materialismus aus dieser Frage entwickelt. Wie lässt sich begründen, dass wir die Formung der Erdkruste oder eine paläolithische Gesteinsplatte datieren können, ohne ein anwesendes Subjekt, das sie hätte verzeichnen und beschreiben können? Haben die Fossile den selben Status wie die Muschelschalen, die unter den Stiefeln am Strand von Sandycove in Joyce’ Beschreibung knarzen? Ist eine erfundene Erfahrung aus der Kunst wirklicher als eine erwiesene aus der Physik, die jedoch niemand erlebt hat? Und was ist mit der Zukunft? Wäre nicht Gleiches für die Zukunft zu sagen? Das Futur war immer schon Spekulation, ob literarisch oder szientifisch. Die Kunst sagt: aus demselben Grund, wie es uns möglich ist, einen historischen Tag mit Fiktionen zu bereichern, werden wir zukünftige Ereignisse ästhetisch nach Belieben beleben. Science Fiction sei schließlich ein beliebtes Genre. Die Naturwissenschaft sagt: aus demselben Grund, wie wir über die Erdkrustenbildung Bescheid wissen, können wir über die Zukunft befinden. Es braucht keine Fiction, es genügt Science. Berufene wissen, wann die Erde zugrunde gehen wird. In fünf Milliarden Jahren oder so. Nur für den Kapitalismus kann kein Verfallsdatum angegeben werden. Für ihn gibt es keine Physik und keine Kunst. Er schafft sich die Zukunft selbst, braucht weder wissenschaftliche Berechnung noch ästhetischen Reiz. Zweifellos ist der Kapitalismus die extremste Triebkraft der Geschichte. Seine Macht besteht darin, das Ungenügen der anderen zu nutzen. Der Kapitalismus überlebt Katastrophen, Konkurs und Kapitulationen und sogar noch die Krisen, die er selbst verschuldet. Er ist widerstandsfähig, elastisch, robust. Ist er eigentlich noch menschengemacht? Wie die Kunst und die Wissenschaft? Oder ist er längst ein eigenwilliges und selbstbestimmtes Monster? Wirtschaftsstudenten haben kürzlich von sich reden gemacht. Sie lehnen sich gegen den Methodendiskurs des üblichen Lehrangebots auf. Nutzenfunktionen maximieren, Schnittpunkte für Graphen finden, Stochastik-Aufgaben lösen, alles auf der Basis neoklassischer Doktrinen, das sei zu wenig. Es gehe nicht um Modelle, sondern um reale ökonomische Probleme. Die Alternative, die die wachen Studierenden einfordern, ist das Verstehen des Kapitalismus selbst, nicht seine theoretische Lenkung. Das Projekt ist politisch brisant und wohl noch Spekulation. Doch gelänge es, dann schreibt sich die nächste Generation der Volkswirtschaft in eine Wirklichkeit ein, bringt das Reale zurück wie der spekulative Materialismus und bereichert es zugleich wie Joyce einen gewöhnlichen Tag in Dublin.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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