Werbung
,

Spekulativer Realismus und die Kunst

Die Bilder und das aktuelle Denken

Karl Matthias Ernst: Porträt des Johannes Bückler (Schinderhannes), Öl/Holz, 1803, Stadtarchiv Mainz

Der Schinderhannes war ein Bösewicht, ein gedungener Räuber, der sein Unwesen schon in jungen Jahren trieb. Auch wenn man es ihm nicht ansieht. Mindestens 211 Straftaten konnte man ihm nachweisen, besonders Pferdediebstähle. 1803 wurde er gehängt. Öffentlich. Das Gesetz sah es so vor. Damals entstand das Gemälde, das ihn im grünen Rock und mit schütterem Rotschopf zeigt. Die Epoche der Aufklärung war gerade dabei, sich in eine idealistisch gefärbte Romantik zu verwandeln. Vieles war im Umsturz. Das Zeitalter hatte die Selbstbestimmung des Menschen hervorgebracht, bürgerliche Gleichheitsrechte geschaffen und erste – wenn auch blutdürstige – Republiken. Daneben entwickelte die Aufklärung den Begriff der Kunst, ein von gesellschaftlichen Instanzen freies Metier und eröffnete Museen. Das Zeitalter des Ikonischen begann, das belegt nicht nur das Gemälde des Todgeweihten, sondern auch dieser Blog. Seitdem darf jeder, der sich der Kunstwelt zugehörig fühlt, glaubhaft machen, auf der richtigen Seite zu stehen, zumindest solange eine Äquidistanz gewahrt bleibt zu Ideologien und sinistren Machenschaften wie Pferde- und Daten-Stehlen. Die Aufklärung lehrte nämlich, dass die Welt in zwei Teile zerfällt, in eine an sich und eine für sich. Die Welt für sich ist diejenige, die wir wahrnehmen und beurteilen, in der wir Erkenntnisse sammeln, Entscheidungen treffen, Gesetze erlassen und Geschmacksurteile vornehmen. Es ist die Welt der Wissenschaft, der praktischen Vernunft, der Gesetzgebung und der Kunst. Über die andere Welt, die Welt an sich, lässt sich nichts sagen, nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt. Kurzum, nur die Welt der Erscheinungen ist uns zugänglich. So lautete die Denke von Immanuel Kant. Seither datieren wir diese Epoche nach seinem eigenen Wort als jene nach der kopernikanischen Wende. Und obwohl Kant eigentlich subjektive Urteile im Sinn hatte, war seine Kritik bester Nährboden für die gedeihende Disziplin der Kunst. Denn Bilder gehören der Welt der Erscheinungen an. Sie sind sogar Erscheinungserscheinungen, weil sie Erscheinungen sind, die andere spiegeln. In der Nachfolge Kants hatte Ernst Cassirer die Kunst und Kultur in ähnlichem Sinne gedeutet. Die Welt erschließe sich in symbolischen Formen, sagte er hundert Jahre nach der Wende. Der Mensch steht immer schon in der Welt, Mythen und Kultur sind sein Weltbezug. Es ist bekannt, dass sich die Kunstgeschichte von diesen Gedanken beeinflussen ließ, besonders Erwin Panofsky und seine bis heute wirkmächtige Ikonologie. Dies war gewissermaßen zwingend, denn jede Erscheinung kann als kulturelles Phänomen dekuvriert und gedeutet werden. Weltverständnis ist Kunstwerkexegese. Doch das Erscheinungsdenken war noch nicht auf seinem Höhepunkt. Später kam noch der iconic turn dazu, der Bilder zum primären Medium der Welterschließung erhob. Aus einem ursprünglichen Teil der Erscheinungswelt wurde eine Allformel für ihr Verständnis. Von der Welt, die vormodern, substantiell und metaphysisch gefärbt war, war schon lange nicht mehr die Rede. Schinderhannes bartelsi, 98 mm, Fundort Bundenbach/Hunsrück, Naturhistorisches Museum Mainz, ca 500 Millionen Jahre, Paläontologische Sammlung Nun kommt es allerdings, anders als man denkt. Eine neue philosophische Wende zeichnet sich ab. Sie kommt von den Rändern Europas her und geht zurück vor die kopernikanische. Das Universum der Visualität gerät unter Druck. Vielleicht ist das neue Denken am besten beschrieben als Rückkehr zur empirischen Rohkost von Locke, Hume und Hobbes, dargeboten auf dem Fundament heutiger Naturwissenschaften und ihren präzisen Rechen- und Erkenntnisstandards. Wie lässt sich eine Welt vor der Zweiteilung denken? Gibt es ein Ding an sich? Und was bedeutet das für die Kunst, die – obwohl dies ihren Interessen zuwider läuft – die neue Weltbegegnung zuerst rezipierte? Das erste öffentliche Treffen der Speculative Realists fand am Goldsmith College 2007 in London statt. Von Kunst ist in den Werken von Quentin Meillassoux, Iain Hamilton Grant, Graham Harman und Ray Brassier nicht die Rede, sieht man davon ab, dass sich Meillassoux einmal mit dem „Coup de dés“ von Mallarmé beschäftigte. Warum wirkt seine Ontologie plötzlich erlösend und warum erscheint die Möglichkeit, einen Realismus anzuerkennen, der den Dingen und nicht den menschlichen Entscheidungen ihr Eigenrecht gibt, als eine denkbare Alternative? Meillassoux bringt ein einfaches Argument ins Spiel. Er verweist auf die Unmöglichkeit der Erfahrung vor der physischen Existenz des Menschen. Auch das transzendentale Subjekt muss sich in existierenden Menschen verwirklicht haben. Wie aber ist eine naturwissenschaftliche Datierung möglich, die ein Zeitalter betrifft, das lange vor dem Auftreten menschliche Subjekte gewesen sein soll? So wie es das Fossil eines räuberischen Urvogels belegt, der nach Schinderhannes und seinem Erforscher benannt ist (Schinderhannes bartelsi) und aus dem Zeitalter des Kambriums (540 bis 495 Millionen Jahre) stammt? Ist es Zeit für dingliche Spekulation? Und was bedeutet eine objektbezogene Ontologie für die Kunst, die doch nur Bilder, ergo Erscheinungen, liefern kann?

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
Spannung
Vitus Weh | 19.05.2014 09:08 | antworten
Danke für den wunderbar atemraubenden Galopp durch die ikonische Entwicklung. Die aufgebaute Spannung steht kurz vor dem Sprung. Aber was wäre eine "dingliche Spekulation"? Bitte lassen Sie Ihre gebannt Leserschaft nicht zu lange auf Ihre Antwort warten!

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: