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1938

Alle Welt schärft den Blick zurück auf 1914. Nutzen wir die Gelegenheit und schauen auf ein anderes Datum: 1938. Unter dem Stichwort „Sudetenkrise“ ist damals ein rechter Nebenschauplatz aktenkundig geworden, ein Streifen der Tschechoslowakei, der mehrheitlich von einer nationalen Minderheit bewohnt war. Sie sprachen deutsch, hielten sich für Deutsche und reklamierten zunehmend militant, was sehr beschönigend unter „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ firmiert. Das NS-Regime auf der anderen Seite der Grenze tat, was es konnte, um die Militanz zu unterstützen, natürlich gab es einen „Führer“ der Volksgruppe, er hieß Konrad Henlein, er wurde, als geschah, was vorauszusehen war, nach der Angliederung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich Gauleiter im neu hinzugekommenen Gebiet. Henlein brachte es zum SS-Obergruppenführer, er beging einen Tag nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Selbstmord, es war das entsprechende Programm. Die Annexion des Sudentenlandes ließ sich mit einer politischen Idee rechtfertigen, die den Ersten Weltkrieg kräftig angestoßen hatte. Irredentismus heißt sie, die „terra irredenta“ ist im Italienischen ein Land, das „unerlöst“ ist, weil seine Bewohner davon träumen, zu einem anderen zu gehören: zu einem anderen, dem sie sich in Sprache, Kultur, Ethnie stärker verbunden fühlen. Die Nazi-Politik hat mit dem Irredentismus ein gutes Geschäft gemacht, das Saarland, Österreich und eben die Gegenden in Böhmerwald und Erzgebirge ließen sich wohlfeil einverleiben. Der Westen, voran die alten europäischen Demokratien Großbritannien und Frankreich, ließ es sich gefallen, bei der Sudetenkrise gab es sogar einen berühmt gewordenen Pakt, der im „Münchner Abkommen“ vom 30. September 1938 besiegelt wurde. Hitler unterzeichnet das Münchner Abkommen, Postkarte, Foto: Heinrich Hoffmann, 9 x 14 cm, München, 30 September 1938, DHM, Berlin, Do 78/35II.1 Danach schwenkte Nazi-Deutschland vom Irredentismus auf platten Imperialismus um. Fortan ging es nicht mehr um irgendwelche Rechte irgendwelcher Deutscher, fortan wurde einkassiert mit allen Mitteln, die ein perverser Geist ersinnen konnte. Die Tschechoslowakei war das erste Land, das solcherart beglückt wurde. Der Überfall im März 1939 lief unter dem ungeschönten Begriff „Zerschlagung der Rest-Tschechei“. Historia Magistra Vitae. Natürlich schreit es danach, die Sudetenkrise mit der Krimkrise zu vergleichen. Natürlich ist die Einverleibung der Schwarzmeer-Halbinsel ins Reich der Russen ein nachgeholter Versuch in Stilisierung eines unerlösten Landstrichs. Und natürlich bleibt jetzt eine Rest-Ukraine, die der Zerschlagung ins Auge blickt. Ob der Generalissimus Putin die dabei notwendige Umpolung von Irredentismus in Imperialismus versucht, wird davon abhängen, wie der Westen sich benimmt. 1938 hat der Westen, es ist vielfältig beschrieben worden, eine Unmenge an Fehlern gemacht. Jetzt hat der Westen auch schon wieder ein Unmenge an Fehlern gemacht, die vorauseilende Einladung an eine durch nichts als einige Umtriebe auf einem zentralen städtischen Platz legitimierte Regierung, das Land, dem sie usurpatorischer Weise vorsteht, in die EU zu führen, ist dabei der gravierendste. Bei aller Schuld des Westens 1938: Der Gegner hieß Hitler. Nun heißt er Putin. Auch den sollte man nicht unterschätzen.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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