Rainer Metzger,
Wien Berlin
„Lieber in Berlin unter Wienern als in Wien unter Kremsern“. Diese reizende Begründung für seinen Umzug von der Donau an die Spree gab im Jahre 1928 Anton Kuh. Es ist sicher kein Zufall, dass es unter all den Schöngeistern und Konquistadoren, den Exquisiten und Equilibristen, die im Wien der Zwischenkriegszeit wirkten, vor allem zwei Gruppen gab, die der Stadt peu à peu verloren gingen. Es waren die Feuilletonisten und es waren die Filmleute, unter denen es einen Exodus gab, dessen Ziel in den allermeisten Fällen Berlin war: Literaten vom Schlage eines Alfred Polgar oder eben Anton Kuh und Kinematografen der Linie Fritz Lang - Fred Zinnemann - Billy Wilder. In Berlin gab es ein kulturelles Verständnis, das in Wien offenbar zu kurz gekommen war: Es rankte sich um die Einsicht, dass Qualität und Quantität, Avanciertheit und breite Rezeption, künstlerischer Ausdruck und anonyme Verfügbarkeit zusammengehen. Die Zeitung und das Kino waren die Kommunikationsmittel der Zukunft.
Was die bildende Kunst angeht, kümmert sich im Moment die Berlinische Galerie um das Thema. Hier war die Schräglage weniger eindeutig, auch wenn das Jahrhunderttalent, das Wien zu bieten hatte, früh-, wenn auch nur eher kurzzeitig an Deutschlands wasserköpfige Hauptstadt verloren ging: Oskar Kokoschka aber war ohnedies überall und nirgends in seinem missratenen Jahrhundert daheim. Die anderen blieben entweder, wo sie waren, oder begnügten sich mit Besuchen. Womöglich hat das mit ihrer geringen Relevanz zu tun. Die Musik spielte woanders, und es waren eben die Musik, der Film ohne und bald auch mit Geräusch und sowieso alles, was mit Theatralik zu tun hatte, die den Ton angaben.
Sigmund Freud, ein Wiener, der es nicht nötig hatte, nach Berlin zu gehen, hat 1921 die epochenspezifische Wendung des Prinzips Neurose dingfest gemacht. „Massen-Psychologie und Ich-Analyse“ versucht, die ganz aufs Individuum und seine ureigene Geschichte hin orientierte Lehre von der Seele auf die neue, weltbewegende Erscheinungsform von Sozialität, die Masse, hin zu öffnen. Damit diese Psychologie funktioniert, sagt Freud, bedarf es der Delegierung an eine Instanz, durch die eine Art kollektiver Wille entsteht. Zwei Arten einer solchen Instanz sind für Freud denkbar: Die eine entsteht durch Identifizierung, die andere durch Idealisierung, jene führt zur Zusammenrottung, diese zur Uniformierung, jene ist unhierarchisch, diese braucht eine Leitfigur.
Holzschnittartig wie es Gegenüberstellungen sowieso sind, ließe sich dieses Vis-à-vis nun auf die beiden Städte und ihre ästhetische Mentalität übertragen. In Berlin entdeckt man die Masse als Zusammenrottung, und was die Kultur ihr anzubieten hat, sind jene Kulte der Zerstreuung in Glanz und Glamour, die ein Gemeinschaftsgefühl stiften, also über Identifikation funktionieren. Wien dagegen scheint der Alternative verschrieben, und die Kultur setzt auf den Kanon des Hehren, Wahren, Schönen, in dem zu greifen ist, was Freud mit Ideal meint. Berlin sucht die Syn-Ästhetik. Wien hält die Überzeugung fest, dass die Sphären, die sich in High und Low trennten, auch getrennt zu funktionieren haben. Damals. Irgendwann fragen wir dann an dieser Stelle, wie das heute ist.
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