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Voice of the Unseen: China wie noch nie

Die Chinesen erobern Venedig! Und zwar nicht nur als Biennale-Besucher offensichtlich und in großer Zahl, oder als Immobilienkäufer - hinter vielen Restaurants mit italienischer Fassade stehen bereits mehr oder weniger verborgen Asiaten. Mit "Voice of the Unseen" ist jetzt zudem auf 4500 Quadratmetern die größte und umfangreichste Ausstellung zeitgenössischer chinesischer Kunst zu sehen, die es jemals außerhalb Chinas gegeben hat.188 Künstler und Gruppen sind vertreten, die Hälfte von ihnen war noch nie im Westen zusehen. Das klingt alles sehr superlativ und ist es auch irgendwie. Etwas irritierend ist allerdings nicht nur der Untertitel der Schau: "Chinese Independent Art 1979-today" lässt auf eine große Überblicksschau hoffen, die einen breiten Bogen spannt von den 'Klassikern' der Gegenwartskunst bis zu angesagten jungen Künstlern. So sähe eine strategisch platzierte Schau chinesischer Provenienz wahrscheinlich auch normalerweise aus. Denn der chinesische Kunstmarkt- und Ausstellungsbetrieb ist mit potenten 'Sammlerhändlern' durchsetzt. Wäre "Voice of the Unseen", immerhin ein offizieller Kollateralevent der Biennale di Venezia im nicht ganz einfach zu erreichenden Nordteil des Arsenale, tatsächlich ein solches Vehikel, dann gäbe es einige hochkarätige Werke aus den 80er und 90er Jahre zu sehen, die einen großen Haufen aktueller Spekulationsware aufwerten sollen. Die wäre dann im Anschluss an die Biennale dem Markt zugeführt worden. Ganz so funktioniert "Voice of the Unseen" aber nicht. Welches Modell genau hinter der Schau steckt, lässt sich allerdings ebenfalls nicht zuverlässig bestimmen. Der Geld- und Impulsgeber dieser Ausstellung ist die Sichuan Tomorrow Art Management Company von Xiang Li. Was nach einem weiteren Investmentvehikel klingt, ist nach Xiangs Aussage allerdings eine Art Stiftung (die es nach chinesischem Recht so nicht gibt), jedenfalls eine Non Profit-Organisation. "Tomorrow Art ist kein Business", erklärt er. "In den letzten 20 Jahren hat es zuviel Investment in Kunst gegeben. Ich glaube, dass Kunst als Investment die Sicht des Künstlers auf die Kunst zerstört." In diesem Zusammenhang ist auch die Auswahl der Werke zu verstehen. "Es geht nicht darum zu zeigen, was Leute sammeln, sondern um das, was genau jetzt in China passiert", so Xiang. Europäische Kenner der chinesischen Kunstszene sehen jedoch nicht nur Altruismus am Werk. Von mehreren Seiten, die sich untereinander nicht unbedingt freundschaftlich verbunden sind, ist das Gerücht zu hören, die Künstler hätten für ihre Teilnahme bezahlt. Der Veranstalter hält dagegen, einige Künstler hätten ihm aus Dankbarkeit und Freundschaft Kunstwerke geschenkt. Hier zeigen sich vielleicht auch schlicht Mentalitätsunterschiede. Im Westen wird der chinesische Umgang mit Kunst ohnehin gerne als semiprofessionell und grenzseriös beschrieben. Aber vielleicht hat man im Reich der Mitte auch nur einen pragmatischeren Zugang. Das kann zuweilen ganz sympathisch sein, etwa wenn die englischsprachige Regierungszeitung China Daily die Biennale di Venezia schlicht "eine der wichtigsten internationalen Kunstmessen" nennt. Zeugt so eine Charakterisierung von Ahnungslosigkeit oder von Realismus? Die Ausstellung selbst irritiert dann etwas. Denn es handelt sich keineswegs um den erwartbaren Überblick mit Kunstwerken aus den letzten dreieinhalb Jahrzenten. Vieles kommt direkt aus dem Atelier, kaum ein Werk ist älter als drei Jahre. Fast alle ausgestellten Künstler sind hingegen schon seit Jahrzehnten tätig, viele seit Beginn der aktuellen chinesischen Kunstgeschichte, die mit den Reformen Deng Xiaopings im Jahr 1979 und der Bildung erster Künstlergruppen einsetzt. Auch von ihnen sind allerdings ausschließlich aktuelle Arbeiten zu sehen. Und: Alle Werke stammen aus dem Besitz der Künstler. Wang Lin, einer der einflussreichsten Kritiker und Kuratoren des Landes hat zusammen mit dem Direktor des Museums Kanton, Luo Yiping und Gloria Vallese von der venzianischen Universtät 'Ca Foscari, die schon bei der letzten Biennale mit "Cracked Culture?" eine ähnlich gelagertes Projekt in kleinerem Rahmen organisiert hatten, haben zwölf chinesische Kuratoren aus dem Fundus der Künstler auswählen lassen. Die Gruppierung unter sieben Themen (Familie, Dorf, Ruinen, Armut, Körper, Landschaft, Gedächtnis, Geschichte, Magie), mag dem westlichen Betrachter etwas eigenwillig erscheinen. Und die Kunst ist es noch mehr. Die knapp 200 Künstler eröffnen ein sehr breites Spektrum unterschiedlichster Positionen von der bekannt knallbunten Glitzerware bis zur spröden Konzeptkunstkunst, und doch tritt bei jedem einzelnen Werk eine gewisse Andersartigkeit zutage, die sie von westlicher Kunst unterscheidet. Kleinformate findet man eher selten. Vor allen Dingen wird deutlich, dass sich die chinesische Kunstszene in den vergangenen drei Jahrzehnten immer mehr ausdifferenziert hat. Chinesische Kunst ist keineswegs nur poppig und politisch unverdächtig. Wegen einer Performance von Sun Ping kommt es fast zum Eklat. Der Künstler war seit den späten 80er Jahren eine wichtige Figur in der Szene, verlegte sich aber auf Theorie und das Bücherverlegen, als der erste Boom chinesischer Kunst einsetzte. Seine neuen Arbeiten bergen jedoch nach wie vor Sprengstoff. Als eine Frau in seinem Auftrag mit in die Vagina gestecktem Pinsel den Text der 'Internationale' auf Papierbahnen auf dem Boden schreiben soll, schreitet ein chinesischer Funktionär ein und versucht, die Performance zu verhindern. Nach einigem Hin und Her einigt man sich dann auf einen Kompromiss: Die Aktion wird - relativ hastig - durchgezogen und man verzichtet auf das Abspielen der Internationale. Dass in einem Kunstbetrieb, den kaum noch etwas schocken kann, ausgerechnet eine Aktion eines in China lebenden chinesischen Künstlers auf einem halboffiziellen chinesischen Biennalebeitrag – wie auch immer man über die Aktion selbst denken mag – für Furore sorgen kann, ist immerhin ein ermutigendes Zeichen.
Mehr Texte von Stefan Kobel

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Voice of the Unseen
01.06 - 24.11.2013

Arsenale Nord
30122 Venezia, Tesa alle Nappe n. 91 / Tese di San Cristoforo n. 92-93-94
http://www.voiceoftheunseen.org/


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