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Henning Ritter 1943 – 2013

Es gibt Leute, und es sind nicht die dümmsten, die haben nur ihre Lokalzeitung abonniert. Zusätzlich zum ortsansässigen Käseblatt lesen sie dann am Montag den „Spiegel“, dienstags schnaufen sie durch, mittwochs kaufen sie die „F.A.Z.“, donnerstags die „Zeit“, freitags die „NZZ“, samstags die „Süddeutsche“ und zum Abschluss der Woche, naja, die „Bild am Sonntag“. Die „F.A.Z.“ ist dran, weil sie mittwochs die „Geisteswissenschaften“ enthält. Diese Beilage war damals, als sie 1985 entstand, etwas ganz Neues, und sie ist es als Mitteilungsorgan akademischer Umtriebe auch geblieben. Sie entstand, als Henning Ritter in die Redaktion eintrat. Ritter war eine Figur wie es etwa Hans Werner Richter für die Gruppe 47 war, ein Impresario, einer für die Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, einer, der die Dinge in die Fasson fügte, ohne selbst die große Geige zu spielen. 2008 ist er pensioniert worden. Und jetzt begann seine zweite Karriere, unerwartet und doch irgendwie vorhersehbar. Im Berlin-Verlag publizierte er 2010 Extrakte aus seinen Notizheften, und ganz logisch verband sich die kleine Form mit der großen Geste eines Wissens, dass nur der Aphorismus die Welt zusammenhält. „Das Museum verwandelt auch die Werke der Avantgarde in Stil, so wie es schon die frommen Werke in schöne verwandelt hatte“, schreibt er darin. Oder, anlässlich Wittgensteins: „Die Antwort auf die Stillosigkeit ist die Stilenthaltung“. Besonders pointiert: „In der Geschichte haften die Kinder für ihre Eltern“. Es ging um Gott und die Welt und vor allem um beider Stellvertreter in Gestalt der Intellektuellen: „Ich studiere die Autoren nicht, ich versuche vielmehr, sie zu erraten. Mich interessiert nicht die Seite, die sie mir zuwenden, sondern die, die sie vor mir verbergen.“ Ein von mir erstelltes Register (das Buch selbst verweigert skandalöserweise einen Index), sieht als Ritters Dreigestirn die illustren Denker – in der Reihenfolge der Anzahl ihrer Anrufungen – Stendhal, Nietzsche und Sigmund Freud. Das Trio ist jetzt nicht unbedingt originell, alle drei sind dem 19. Jahrhundert verhaftet und alle stehen sie zumindest mit einem Bein in der Ästhetik, auch wenn sie letztlich in ein anderes Metier gehören. Wahrscheinlich gilt für Henning Ritter das Gleiche. „Das Jahr 1979“, so lautet die vielleicht spektakulärste seiner vielen Hundert Notizen, „könnte sich eines Tages als das wichtigste und folgenreichste seines Jahrhunderts erweisen. Denn damals wurde in Iran bewiesen, daß der Säkularisierung genannte Prozeß umkehrbar ist und nicht, wie man bis dahin glaubte, unumkehrbar.“ Wenn man das liest, kann man nicht umhin, der Geschichtsskepsis, die einen ohnedies umtreibt, eine weitere Facette an Pessimismus hinzuzufügen. Ritter indes fährt folgendermaßen und durchaus verwirrend fort: „Wie unerfreulich das Regime Chomeinis auch gewesen sein mag, es enthielt eine optimistische Botschaft: Modernisierung ist kein Schicksal, das keine Auswege offen läßt. Seither hat es vielerlei Phänomene der Wiederkehr gegeben, als bedeutsamstes die Wiederkehr der Religion.“ Ritter war, so lässt sich hier erfahren, nicht einfach ein Aufklärer. Aber das waren seine großen Vor-Denker schließlich auch nicht. Am 23. Juni ist Henning Ritter noch nicht einmal 70jährig verstorben.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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