Rainer Metzger,
Ästhetik heute
Der „Merkur“, der Anfang letzten Jahres in Christian Demand einen neuen Herausgeber bekommen hat, setzt in seiner aktuellen März-Ausgabe mit einem Text des Literaturwissenschaftlers Ingo Meyer ein. „Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik“ ist der Essay betitelt, und seine Analyse des theoretischen Status Quo in den Künsten ist erwartungsgemäß düster. Hegel, Marx, Adorno sind tot, Derrida und die meisten der französischen Meisterdenker desgleichen, und leider ist es auch Nelson Goodman, der alles in allem am besten wegkommt in den Ausführungen. Ein wenig geht es noch gegen den Vorgänger Demands beim „Merkur“, gegen Karl-Heinz Bohrer und seine modernistische Emphase der „Plötzlichkeit“, doch auch ein solcher Exorzismus ist längst fällig gewesen in der Zeitschrift. „Die gute alte Tante Ästhetik ist zwar sehr in die Breite, nicht aber in die Tiefe gegangen“, so rettet sich der Diagnostiker dann resümmierend in den Kalauer.
Was grob geschätzt die große Mehrheit der heutigen Wortspender zumindest in den kunstbetrieblichen Texten darstellt, kommt nicht vor in Meyers Liste. Frauen sind generell Personae non gratae, der Autor glaubt tatsächlich es mit der Bemerkung von „drei Jahrzehnten peinigender Lektüre“ abtun zu können. Jacques Rancière und Alain Badiou werden verschwiegen, desgleichen die gesamten Vertreter der Pop-Fraktion. Müßig anzumerken, dass es auch Robert Pfaller, dessen „Die Illusionen der anderen“ wenigstens mir im letzten Jahrzehnt immer wieder weitergeholfen hat, in der Aufstellung nicht gibt.
Doch ist das vielleicht nicht nur ein Manko Meyers. Tatsächlich sind die gerade bemängelten Namen ein wenig abgedriftet in ihrer ästhetischen Tätigkeit. Sie haben den Praxisbezug, der schon einmal vorkommen darf, wenn es um Dinge der Künste geht, vielleicht ein wenig überstrapaziert und stellen jetzt so etwas wie gehobene Beratertätigkeiten zur Verfügung. Pfaller ist zuständig für Lebenskrisen, die Franzosen blicken der sozialistischen Präsidentschaft oder der Wissenschaftspolitik über die Schulter, und die Pop-Autoritäten haben sich wieder zurückgezogen in die Sphäre, aus der sie kommen, und geben Tips fürs Plattenhören und Filmeschauen.
Womöglich stellt das den Zustand der Ästhetik heute insgesamt dar. Wie das künstlerische Feld sich in die Ununterscheidbarkeit von Text und Kontext begeben hat, so auch das Feld des Nachdenkens über dieses Feld. Die letzte documenta hat vorgeführt, wie es ausschließlich an der Bestimmung „Kunstausstellung“ liegt, dass ein aufgerollter Rasen oder eine Fotowand nach Installation und nicht nach Ökomarkt oder nach Misereor aussieht. So hat der Nominalismus sich auch der Ästhetik bemächtigt. Das Spezifische einer Reflexion über Kunst ist nur noch per Namen greifbar. Sag dazu Ästhetik; du kannst es aber auch Lifestyle-Guide nennen.
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