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Infusion oder Amputation? Berliner Forderungen gegen den Infarkt

Verteilungsdebatten liegen in der Luft. Seitdem die großteils öffentlich subventionierte Autorengruppe Dieter Haselbach (Universität Marburg), Armin Klein (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg), Pius Knüsel (Pro Helvetia), Stephan Opitz (Kultusministerium Schleswig Holstein) ihren bemüht provokanten – aber vor allem in seiner Kunstwahrnehmung veralteten – Text vom Kulturinfarkt abgeliefert hat, verfügt die Kulturpolitik über ihre Warholschen 15 Minuten. Die Verkürzung der Kampfschrift auf die Forderung nach Schließung von 50% aller Kulturinstitutionen und die Unschärfen des zu langen Pamphlets machten es den zahlreichen Kritiker_innen des Buches leicht, dem Angriff argumentativ entgegenzutreten, und die Aufregung sorgte vielleicht sogar dafür, durch die mit ihr verbundenen Solidarisierungseffekte, das kulturelle Feld kurzfristig zu stärken. Dennoch wird die Stoßrichtung der Attacke die Auseinandersetzungen der nächsten Jahre prägen. Dies aus mehreren Gründen: Ersten stellt der Dünkel gegen ein vermeintlich «abgehobenes» Kunstsystem ein verbindendes Element rechter, linker, grüner und auch piratesker Kulturkritik dar. Zweitens besteht eine nicht unbeträchtliche Schnittmenge, in der sich die Kulturinfarktler mit jenen Kulturakteur_innen finden, die zu Recht die Neuordnung der öffentlichen Kulturfinanzierung, und dabei insbesondere die Umverteilung zu Lasten etablierter Repräsentationskultur, fordern, und – drittens – ist – nicht absehbar, mit welchen Mitteln kurz- und mittelfristig ein «Appeasement» der anbrechenden Verteilungskonflikte erfolgen soll. Die Repräsentationslastigkeit des österreichischen Kulturlebens böte hier vielfältige Angriffsflächen, doch verschafft die hohe touristische Nutzung der Flagshipinstitute, in Verbindung mit einem unreflektierten Konsens über die «Kulturnation», dem Kulturbetrieb hierzulande noch eine gewisse Immunisierung, deren Wirksamkeit sich jedoch erst in verteilungspolitisch härteren Zeiten erweisen wird müssen. Dabei wird es für die Flotte der Hochkulturgegner_innen nicht immer leicht sein, zwischen der ignoranten Skylla der Kunstfeinde und der marktpopulistischen Charybdis der neoliberalen Sparefrohs zu navigieren. Zwei Ereignisse der Berliner Kulturpolitik der letzten Wochen liefern diesbezüglich erhellende Einblicke: Den komplexeren Zugang wählte eine breite Allianz «freier» Kulturkräfte, die der Stadt Berlin in Form eines offenen Briefes zahlreiche Forderungen im Interesse einer nachhaltigen Kulturentwicklung auftischte, unter denen sogar ein «Solidaritätsprinzip» zwischen festen Institutionen und der freien Szene seinen Platz fand. Für die angeblich infarktverhindernde Amputationstherapie entschied sich hingegen die Berliner Piratenpartei, mit der Forderung nach Rücknahme der 39 Millionen Euro hohen Landesförderung für die Deutsche Oper Berlin. Zwar blockte die regierende SPD-CDU Koalition die Forderung erwartungsgemäß ab, doch wäre es interessant zu wissen, über wie viele klammheimliche Sympathisant_innen eine derartige Forderung in Zeiten von Sparpaketen und Elitekritik verfügt, umso mehr als gefordert wird, das frei werdende Geld für die Unterstützung «armer Künstler und freier Projekte» zu verwenden. Laut Presseberichten wurde die Kürzungsforderung unter anderem deswegen erhoben, um die «Gegenfinanzierung» für Digitalisierungsmaßnahmen im Umfang von nur einer Million Euro darzustellen. Das Beispiel zeigt, dass Verteilungsdebatten logischerweise überall dort notwendig sein werden, wo keine Erhöhung der Gesamtbudgets mehr vorstellbar ist. In wachstumsgewohnten Zeiten hätte sich wohl eine Allianz dafür gefunden, die neuen – finanziell moderaten – Piratenwünsche eben zusätzlich zum Bestehenden zu finanzieren. Der offene Brief der freien Szene ist sich dieser Finanzierungshürden ebenso bewusst, doch versucht er sie offensiver zu überspringen, indem – gleich zu Beginn – die «Erhöhung der Ausgaben für die Kultur innerhalb des Berliner Gesamtetats» gefordert wird. Um diese Forderung realitätstauglich zu machen, wird im nächsten Satz die Einführung der geplanten «Citytax» begrüßt, eine neuberliner «Kurtaxe» in Form eines 5-prozentigen Aufschlags auf jede Hotelrechnung. Damit wird das budgetpolitische Spielfeld durch die Einbeziehung von Tourismus und Städtemarketing erweitert, um die Debatte auch dorthin zu tragen, wo mit den Images einer «dynamischen» Berliner Kulturszene bereits seit Jahrzehnten heftig und erfolgreich geworben wird. Folgerichtig wollen die Unterzeichner_innen die Hälfte dieser neuen Einnahmen für die Förderung der «Freien Szene» und scheuen zur Untermauerung ihres Claims auch nicht vor Formulierungen zurück, mit denen, die «Künste in ihrer Vielfalt» als «entscheidender Wirtschafts- und Tourismusfaktor» bezeichnet werden, allerdings mit dem Zusatz, sich dennoch gegen «Verwertungszwänge» wehren zu wollen. Gerade in Verwertungsfragen erweisen sich die Briefautorinnen als sattelfest, was sich etwa in einem eigenen Punkt zu kommunaler «Liegenschaftspolitik» und in der Forderung nach «Honoraruntergrenzen» zeigt. Vielleicht skizziert der Brief in seiner berlintypischen Mischung aus Autonomie und Ökonomie einen der Wege zwischen jenen Zusperr- und Neuverteilungsplanspielen, die ohnehin nur am autoritären Reißbrett funktionieren, und der lähmenden Status-Quo-Verteidigung, die einen Zukunftssektor wie die Kultur nur in Misskredit bringen kann. Die freie Szene Berlins heftet sich mit ihren Forderungen selbstbewusst an die Ferse jener Image- und Kapitaltransfers, mit denen in «Global Cities» versucht wird, den Reiz des Sub- und Clubkulturellen in Nächtigungszahlen, Betriebsansiedlungen und «Wertschöpfung» zu verwandeln. Zugleich steht sie offensiv für neue Formen und Formate urbanen Kulturlebens und fordert deren adäquate budgetäre Berücksichtigung. Doch im Unterschied zu den marktservilen Infarktjunkies tut dies die Berliner Allianz unter Wahrung ihres marktkritischen Potenzials und ohne die öffentliche Hand als Adressat ihrer Forderungen aus den Augen zu verlieren.
Mehr Texte von Martin Fritz

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