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Public Provocations 3: Schnittstelle zwischen Haus- und Leinwand

Unweit der Grenze zu Basel und des Kulturzentrums Kesselhaus ist in Weil am Rhein im ersten Stock des Carhartt Outlets die Carhartt Gallery untergebracht. Während im Erdgeschoß junggebliebene Skater mit Adoleszierenden bei knackigem Sound um das richtige Outfit buhlen, gibt es oben unter dem Namen „Public Provocations“ bereits zum dritten Mal eine Auswahl internationaler Meister der Urban Art und Street Art zu entdecken. Kurator Stefan Winterle, selbst aktiver Urban Artist, hat ein schweres Erbe angetreten. Nach dem viel zu frühen Tod von DARE, wie sich der Basler Sigi von Koeding in der Sprayer-Szene nannte, gilt es nun dessen 2006 begonnene Ausstellungstätigkeit auf hohem Niveau weiterzuführen. DARE gelang es mit nur zwei Ausstellungen die Carhartt Gallery in Weil zum ‚europäischen Mekka’ der Urban Art zu machen. Sprayen tun zwar viele, doch um in diese Auswahl zu gelangen, braucht es schon einen gewissen Ruhm und man sollte empfohlen werden. Ebenso wie DARE setzt auch Winterle, unterstützt von einem sympathisch-kompetenten Team in Weil, in seiner Auswahl auf ‚Big Names’ und kombiniert dies geschickt mit einigen talentierten ‚Newcomern’. Allen 12 Ausgestellten gemein ist das hohe technische Können, das sich im Writing, in den Characters, aber auch in den mit Stencil, Aerosolen, aber auch Acryl und Öl gefertigten Werken zeigt. Die Bildmotive und Themen bieten einen bunten Querschnitt durch die gegenwärtige Szene. So treffen klassische ‚Writer’ und Altmeister des Graffiti auf ‚Illustratoren’. ‚Neo Abstraktes’ begegnet ‚3D Lettering’. Die in Halle lebende Graffitikünstlerin MADC – auch Nichteingeweihten durch ihr Buch „Street Fonts“ bekannt – zeigt eigentlich Althergebrachtes, macht aber durch gewagte Kontraste von sich reden, indem sie mit Swarowski Kristallen gefüllte und somit entschleunigte ‚tags’ stark gestisch expressiven und trashigen Formen auf Karton gegenüberstellt. Während gleich nebenan der Däne MORTEN ANDERSEN mit seinem ‚Neo Abstractivism’ eine Reminiszenz an die Formensprache informeller Malerei der 1950er macht, verblüfft der Norweger ANDERS GJENNESTAD in der übernächsten Koje mit der hohen Präzision seiner in ‚Stencil Art’ Manier erstellten vorder- und rückseitig bearbeiteten leerstehenden und zerstörten Geschäftslokale. Im grandiosen „Postpanamax I“ (2009) legt GJENNESTAD eine Flut von transparenten Schiffscontainern über eine Schulkarte der östlichen Halbkugel. Angesichts dieser zunehmenden Normierung nicht nur des Welthandels werden die Freiräume immer seltener und sind heiß umkämpft. WONABC, einer der ‚Kings’ in der Sprayer-Community, weiß ein Lied hiervon zu singen. Seine Verschönerung der Münchner S-Bahn Garnitur 1993 endete in einem langwierigen Gerichtsverfahren. Nun präsentiert er auf 1:1 Fotovorlagen jener Waggons eine Neuauflage seiner legendären „Shunktrain Dragons“ und zeigt einige Zeichnungen voller mysteriöser Ornamente („Dodo Rip“), ikonischer Anspielungen und verspielter Metamorphosen („Pimped Psycho Poodle“). Seitdem er für das Groeninge Museum in Brügge flämische Meister auf ungewöhnliche Weise neu interpretierte, ist auch EL MAC in Europa kein Unbekannter mehr. Normalerweise in Los Angeles anzutreffen, beweist er mit seinem „Portrait of a dying cockroach“ und seinem als „Requiem“ betitelten Portrait einer betenden Nonne nicht nur höchste Perfektion im Umgang mit Aerosolen, sondern in dieser gekonnten Paarung auch einen herrlich blasphemisch anmutenden Gegenentwurf zur scheinbar heilen Welt von DOPPELDENK. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich das Leipziger Künstlerduo Marcel Baer und Andreas Glauch, welches überaus gekonnt kunterbunte Fabelwesen mit Ikonen der Überraschungseier-Kultur in surrealen Welten tummeln lässt. Auch der Münchner LOOMIT, einer der vom Kunstmarkt mittlerweile geliebten Shootingstars, gehört zu den Erzählern. Seine mit „Kois“, „Kakadu“ oder „Kuh“ bevölkerten Schulkarten wirken vordergründig zwar dekorativ, entlarven sich aber nicht zuletzt durch die fein gesetzten ‚drips’ als ausgeklügelte Kompositionen mit einer starken Formensprache, welche Kontinent, Symbole der Karte und die dargestellten Tiere gleichermaßen berücksichtigt. REMS182, aus Turin stammend, huldigt mit seinen nur noch entfernt an ‚character’ erinnernden Portraits nicht nur den eigenen Kollegen, sondern, indem er die ‚cans’ dazu mitportraitiert, zugleich auch deren Arbeitswerkzeugen. Ebenso wie REMS182 thematisiert auch der Chilene INTI Sujets der Urban Art; doch im Gegensatz zu dessen expressionistischer Malweise sind INTIs Patchwork Guerrilleros ungemein starke eigenständige ‚characters’. Seine Gemälde, die den „Kusillo Revolucinario“, eine Kreuzung aus ‚Kusillo’, dem chilenischen Narren und einem Revoluzzer zum Inhalt haben, sind ornamentale Schrift-Bilder; ungemein stark und trotz ihrer südamerikanischen Farbigkeit stille Mahnmale des Protests. So könnte man die umher schwebenden Patronen beinah für sein ‚tag’ halten. Einigen reichen die Wände der Koje jedoch nicht aus. Ein den Ausstellungsraum ins Geschehen integrierendes Gestalten findet sich bei MADC, DREAM und LOOMIT. Während LOOMIT bestehende Elemente wie die Beschilderung des Feuerlöschers in seinen die Architektur umspielenden Eingriff integriert, schafft DREAM ein den luftleeren Raum der engen Kojenwände überspannendes Wandbild. In diesem sind vier 30 x 30 cm große Details ausgespart, die es dann separat als acrylgemalte „Close ups“ zu haben gibt. Eine fünftes Gemälde bildet als Beginn des ‚Murals’ zugleich den Übergang zur dreiteiligen Serie „Tribute 2 Basel Line“, welche den in schummrigen fahlen Gelb getauchten Orten der Basler Sprayer Connection gewidmet sind. Andere wie SCHEME oder ARYZ schaffen mit ihren großflächigen Interieurs feine ‚burner’. Der in Moskau lebende SCHEME tritt in die Fußstapfen des Schweizer Konstruktivisten Hans Hinterreiter und präsentiert links und rechts neben seinem wandfüllenden fein verwobenen ‚3D Lettering’ kleinformatige und starke Acrylarbeiten und einige Fotos als Dokumente der von ihm gestalteten Walls. Gleich nebenan und welch ein Kontrast, der farbenfrohe Ornament-Dschungel des aus Barcelona stammenden ARYZ, der mit seinen wandfüllenden, in floral-vegetabilen Umfeld kämpfenden ‚characters’ in seiner Formensprache an Möbius und William Morris gleichermaßen anknüpft. Grandios auch seine ‚sketches’. Vom Konzept her entspricht die Carhartt Gallery am ehesten einer klassischen Informationsgalerie kombiniert mit dem Modell der Kommission, wie es sie in den 1960er Jahren gab. Die stetig wachsende Sammlung an Urban Art, welche Edwin Faeh (CEO Carhartt Europe) aufbaut, wird in Weil kompetent durch Rudi Anker betreut. Dort sind auch einige Werke der früheren Ausstellungen zu finden. So wie die ausgestellten Werke an der Schnittstelle von temporärer Street Art als auch kunstmarkttauglicher Urban Art zu sehen sind, bietet die Carhartt Gallery eine Plattform für Experimentelles, aber auch für eher konventionelle Konfektionsware. Dieser Spagat gelingt derzeit recht gut und ermöglicht einen Einblick in die reichhaltige Vielfalt der Urban Art und ihren verschiedenen Strömungen. Auf kommende Entdeckungen darf man gespannt sein.
Mehr Texte von Harald Krämer

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Public Provocations 3
06.06 - 29.10.2011

Carhartt Gallery
79576 Weil am Rhein, Schusterinsel 9
Tel: +49 (0)160 909 73 531, Fax: +49 (0)7621 16 29 46 11
Email: rudi@carhartt-wip.com
http://carhartt-gallery.com/
Öffnungszeiten: Di-Fr 14-18, Sa 12-18 h


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