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Neue Masche - gestrickt, gestickt und anders: Spitzentisch und Schlauchweste

Hauptsächlich Gestricktes, einiges Gehäkeltes und wenig Gesticktes tummelt sich derzeit wollig-bunt-dreist bis streng konzipiert im Museum Bellrive, das zum Museum für Gestaltung in Zürich gehört, dessen Kunstgewerbesammlung beherbergt und in dem man sich per definitionem im Dreieck zwischen Kunsthandwerk, Design und Kunst bewegt – diesmal erweitert zum Crossover: Alltag bzw. das Entkommen davon. Tatsächlich ist man hier auf der Spur von Vorgängen, Elaboraten, Kreationen und in gewisser Weise Unaussprechlichkeiten, die unter den alten Begriff Handarbeit/en fallen würden, wenn sie auch nur etwas damit zu tun hätten. Denn es sind eben nicht brauchbare, sittsame, im stillen Kämmerlein oder wohlig-trauten Heim entstandene - und seien es noch so eigenwillig individuell ausgeflippte - Socken, Pullover, Schals, Topflappen, Häkeldeckchen… Vielmehr – siehe die nenbestehenden Abbildungen – überdimensionierte, obsessiv gefertigte, deformierend aus der Normalität ausbrechende, zum Teil absurd wirkende oder persiflierende, dann wieder allzu realitätsbeflissene Objekte. Es sind Nadelarbeiten (engl. Needlework). Die metallenen (potentiell gefährlichen) Spitzen und Haken, mit denen gewerkt wird, vergisst man leicht, solang sie in der Konzentration auf Muster und Schnitt im Zaum gehalten werden, umgarnt von weicher, geschmeidiger, gefügiger Wolle; für manche Aktiven ist es wohl auch pure Entspannung. Nun wurde ihnen quasi freier Lauf gelassen: Maschen erobern den Raum, blähen sich auf, die Unabsehbarkeit, die Endlosigkeit eines Fadens oder die gebündelte Power vieler Fäden rühren eventuell an Urängste – nicht zuletzt und konsequenterweise heraufbeschworen auf der Homepage zur Ausstellung, auf der eine Endelnaht permanent über die Seite steppt, bis zur Unkenntlichkeit. Strickbilder – echt oder grafisch – von Rosemarie Trockel sind seit den 1980ern ein Begriff in der Kunstwelt, technisch geglättet, neutralisiert. In der Ausstellung entschied man sich für ein Video der Künstlerin, in der die Motte als Gegenspieler des Textilen erfolgreich auftritt. Die Hamburger Künstlerin Annette Streyl ist gleich mit zwei ihrer gestrickten Großbauten vertreten: Da schwebt der Reichstag in 10 cm über dem Boden und es hängt lasch und flach die (nie realisierte) Große Halle Berlin an der Wand. Die Bildhauerin macht hier einen Umkehrschluss, indem sie Gigantomanisch-Manifestes in die Welt des Heimelig-Anpassungsfähigen transferiert. Joana Vasconcelos greift die Tradition und auch Kunstfertigkeit der Spitzenhäkelei auf und stellt sie in den Dienst ihrer skulpturalen Werke. Ihre Figuren sind über und über netzartig umhäkelt – die „schöne“ Spitze als unentrinnbares Gespinst, Frauenarbeit, Frauenschicksal. Sie war schon mit diesen Arbeiten in Wien zu Gast bei Mauroner contemporary (2007) – nach ihrem spektakulären Auftritt bei der Biennale in Venedig 2005 mit dem Tamponluster. In strenge Form gegossen funktioniert Marcel Wanders (ja, auch Männer wirken mit!) die Häkeldeckchen um: Sie sind nicht mehr behübschende Tischauflage, sondern – epoxi-gehärtet - werden sie zum Beistelltisch selbst. – Dieses Objekt würde auch thematisch überleiten zu den gestrickten Sitzmöbeln und Stehlampen, die in der mehr Designorientierten Gruppierung zu finden sind. Im Bereich des nach wie vor Kleidsamen agiert Freddy Robins mit seinen Spezialanfertigungen – etwa Short armed and dangerous. Hingegen sind extrem lange Ärmel noch die harmloseste Übertreibung, wenn kreativ musterschwelgend aus dem Vollen geschöpft wird oder XXXL Handschuhe produziert werden oder eine (!) Socke, vermutlich für Schuhgröße 450. Angesichts eines sich vom Sockel auf den Fußboden ergießenden, in Mäander-, Würfel-, Stern-, etc.-Musterung sich räkelndem Gebilde, das seinen Ursprung als Pullover bzw. Weste nicht verleugnen kann, spielt sich durchaus lustvoll das Wortpaar crank/krank ein, stammt vom Künstlerinnen-Duo Bless wie auch die Pseudo-Boxhandschuhe, die man u.a. bereits 2010 im Kunsthaus Graz sehen konnte. Oder wie steht es mit der kultisch-majestätisch aufgeladenen Kopfbedeckung von Johan Fowelin/ Sandra Backlund, die, von einem Mann getragen, diesen mundtot macht, da sie, einer Burka ähnlich, nur die Augen freilässt. Unter die Haut geht das penibel wuchernd gestrickte Hirn von Karen Norberg. Natürlich darf auch der Gemeinschaftsraum für kollektives Maschenwerk nicht fehlen eine Installation von Rüdiger Schlömer, der auch einen Strickzirkel in seinem gnittinK Room anbietet. Und über Monitor kann man sich über diverse Outdoor-Aktionen des sich verbreitenden Guerilla-Knittings informieren, wiewohl man im Mai ein Symposium unter dem Motto Rethinking Needlework veranstaltete. Über 150 Objekte hat man für diese Schau zusammengetragen. Zu den frühesten zählt eine Perl-Stickarbeit in Eiform von Sophie Taeuber-Arp und in der Gegenwart findet man sich wieder bei den im World Wide Web beheimateten Craft Communities. Leider wird es keine farbige Gesamtdokumentation geben und das sehr konzentrierte s/w Begleitheftchen versucht – sehr intellektualisiert – System in die eigenwillig unsystematisch agierende Szene zu bringen, was aber vor den Objekten selbst emotional konterkariert wird. Ungeachtet dessen zeigt das Publikum überraschend großes Interesse an der nicht ganz risikofreien, da grenzgängerischen Angelegenheit, somit steht aber fest: Eva Ahfus, die noch vor Eröffnung der Ausstellung verstorbene Direktorin des Museums, hatte treffsicher dieses Thema gewählt und zur Museumsreife gebracht. Tatsächlich in die Sammlung übergehen wird allerdings nur eine Stickarbeit durch eine Schenkung eines amerikanischen Galeristen. Aber das Sammeln ist eine andere Geschichte.
Mehr Texte von Aurelia Jurtschitsch

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Neue Masche - gestrickt, gestickt und anders
29.04 - 24.07.2011

Museum Bellerive
8008 Zürich, Höschgasse 3
http://www.museum-bellerive.ch/
Öffnungszeiten: Di, Mi 11-18, Do 11-20, Fr, Sa 11-17, So 10-18


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