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Miroslav Tichý (1926–2011)

Exzentrik und Seh(n)sucht Es ist eine Geschichte, wie es sie, zynisch gesagt, der Kunstmarkt kaum besser hätte erfinden können: Während der Eiserne Vorhang fällt, entdeckt man in einer tschechischen Kleinstadt einen Einsiedler, der über Jahrzehnte hinweg ein künstlerisches Werk geschaffen hatte, das weitgehend ohne Beachtung oder auch Anerkennung geblieben war. Dabei hatte Miroslav Tichý (geb. 1926 im mährischen Kyjov) sogar an der Prager Kunstakademie studiert, doch sein auffälliges und daher nicht systemkonformes Verhalten führten zu mehrfachen Internierungen und drängten ihn somit in ein soziales Abseits. Nach seiner Freilassung kehrte er zurück in seinen Heimatort und gab das Malen und Zeichnen auf, stattdessen wandte er sich aber Mitte der 50er Jahre der Fotografie zu: Er stellte etwa mithilfe von Konservendosen und Schuhkartons Kameras her, entwickelte die Fotos selbst, ergänzte sie mit Bleistift und Tusche und gelegentlich auch mit eigens angefertigten und gestalteten Passepartouts. Die Tatsache, dass diese Bilder Alterungsprozessen, vor allem aber einer nicht gerade konservatorisch sensiblen Lagerung ausgesetzt waren (sie stapelten sich angeblich haufenweise auf dem Boden in seiner Wohnung), verleiht ihnen das besondere Flair des Analogen und versorgt diese Unikate geradezu mit einer gehörigen Portion Patina. In einem feinfühligen Filmporträt von Nataša von Kopp („Worldstar. Miroslav Tichý“, D 2007) entlarvt sich der Kunstbetrieb, wenn Galeristen ebenso wie Kunsthistorikerinnen angesichts dieser unbeachtet herumliegenden Schätze leuchtende Augen bekommen und dabei den anwesenden Künstler fast zu vergessen scheinen, wenngleich sie sich dicht gedrängt in seinem Wohnzimmer breit machen. „Die Welt war für mich unsympathisch“, sagte Tichý einmal, und die Aussage lässt sich nur schwer nicht in Verbindung bringen mit den sicherlich gutgemeinten, doch ebenso mit Nachdruck verfolgten (und zweifellos auch finanziell motivierten) Ambitionen, diesem Künstler zu einem späten Ruhm zu verhelfen. Schlussendlich gab es in den letzten Jahren bereits große Einzelausstellungen in so renommierten Häusern wie dem Pariser Centre Pompidou, dem MMK in Frankfurt/Main oder dem Kunsthaus Zürich, wobei Harald Szeemann es war, der anlässlich der Biennale in Sevilla 2004 erstmals Fotografien von Tichý präsentierte. Der Grund für den immensen Zuspruch lässt sich allerdings nicht nur in Szeemanns Interesse für solitäre Positionen vermuten (worin sich eine eigentlich überholte Genievorstellung spiegelt), sondern dürfte auch in einer (anderen) nostalgischen Sehnsucht liegen: Anachronistisch erscheint demnach neben der fast schon fetischisierten Materialität der analogen Fotografie (samt der eigens vorgenommenen manuellen Bearbeitung) ebenso der postkommunistische Hintergrund als geradezu exotische, weil verklärte Kontrastfolie zu einem Kunstbetrieb, der in weiten Teilen doch sehr westlich geprägt ist. Nicht zuletzt sind es aber die Sujets dieser Fotografien, die schlichtweg betören: jene unverblümt und ungebrochen sinnlichen Darstellungen von Frauen aus Tichýs Umgebung, die er mit der Flüchtigkeit eines Flaneurs (meist sind diese Bilder aus der Hüfte geschossen) beim Sonnenbaden, im Park oder auch einfach auf der Straße aufnahm. Oft unbemerkt agierend, schreibt sich Tichýs Fotografien zweifellos ein voyeuristischer Blick ein, der aber immer distanziert genug bleibt, um nicht zu entblößen, sondern vielmehr die Anmut der Dargestellten zu wahren imstande ist. Die teils auch vom Bildschirm abfotografierten Film- und Fernsehschönheiten verdeutlichen zudem, dass Tichý dieses Begehren quasi überhöhte, dass es also um ein besonders visuelles Begehren und, in Anbetracht der Fülle an Bildern, um eine Seh(n)sucht existenziellen Ausmaßes ging. Allzu verständlich also, wenn Tichý das urgierende Vorgehen der Kunstwelt wohl auch als einen Angriff auf seine Privatsphäre empfand. Gleichzeitig müssen wir uns glücklich schätzen, das Werk dieses Ausnahmekünstlers seither kennengelernt zu haben. Am 12. April 2011 ist Miroslav Tichý im Alter von 84 Jahren verstorben.
Mehr Texte von Naoko Kaltschmidt

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