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Die Welt zwischen Pocketguide und großer Leinwand

Viennale 2010 Wir sind mitten drin: 28 Filmvorführungen pro Tag (140 Spiel- und Dokumentarfilme, 50 Kurzfilme), 5 Kinos, Spielzeiten von 11 Uhr Vormittag bis 1 Uhr nachts, Festivalzentrum mit DJ’s, Diskussionen… Highlife für CineastInnen, 13 Tage en suite. Was 1960 als Erste Wiener Filmwoche mit 18 ausländischen und einigen österreichischen Filmen erstmals verwirklicht und schon 1962 in Viennale umbenannt wurde – ja, man kann gespannt sein, welches Aufgebot 2012 zum 50jährigen Jubiläum zu erwarten ist – erlangte bereits 1971 durch die FIAPF (Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films) den Status eines B-Festivals, sprich, eines Festivals ohne Wettbewerb. Diesen Status hat Festivaldirektor Hans Hurch nicht unlogisch hochstilisiert, indem er sich in seinem Statement zum Viennale-Programm vom Gieren nach Meisterwerken, Stars und Premieren distanziert. Vielmehr sich der gleichberechtigten Präsentation von aktuellen und historischen Spielfilmen, Avantgardefilmen und Dokumentationen verpflichtet, und es explizit so will: „Eine nicht-hierarchische Idee von Kino, die Verweigerung von Wettbewerb, die möglichst offene Programmierung. Vielleicht ist das Besondere an der Viennale, dass sie nicht versucht, etwas Besonderes zu sein, etwas Originelles, etwas Herausgehobenes. Sondern einfach ein gutes Filmfestival. Und das ist, wer uns kennt, überhaupt nicht bescheiden gemeint.“ A propos nicht bescheiden. Vincere – Siegen als Motto des aufstrebenden Benito Mussolini, „Sfido dio“ Er gibt Gott genau fünf Minuten Zeit, dass er ihn vom Blitz getroffen tötet. Wenn er weiterlebt, gibt es keinen Gott, e basta. Ida Dalser ist fasziniert von dem jungen Mann, seinen politischen Ideen und schon in den nächsten Filmminuten verliert sie sich an ihn, im Liebesrausch und mit Hab und Gut. Von nun an ist der Blick lange auf Ida Dalsers weiteres Schicksal gerichtet, wie ungnädig ihr und ihrem Sohn ein Sieg, die legitime Anerkennung systematisch vorenthalten wurde. Noch drei weitere völlig verschiedene Annäherungen an Diktatoren, diktatorische Regimes gab es bei dieser Viennale: Autobiografia lui Nicolae Ceausescu, eine Collage offizieller, inszenierter Filmdokumente, La Vida Sublime, ein Spielfilm von Daniel V. Villamediana, der sich der dunklen Zeit des faschistischen Franco-Regimes annähert und 48, ein Film von Susana de Sousa Dias über 48 Jahre Diktatur in Portugal unter António de Oliveira Salazar, gefügt aus alten Fotografien politischer Gefangener, Gesichter von Menschen in den Folterkellern. Nicht Diktator, sondern blanker Terrorist, steht Carlos im Mittelpunkt von Regisseur Olivier Assayas zeitlicher und psychologischer Spurensuche während des Kalten Krieges und des Nahostkonflikts. Für eingefleischte Cineasten als Trilogie (330 Min) angeboten, aber auch in der dreistündigen Kinoversion. Selbstbeschau der Branche findet sich ebenfalls divers vertreten: In Chantal Ackerman, From Here berichtet die belgische Filmemacherin präzis über ihre Arbeit. Festival von Jean-Claude Rousseau erzählt von Hotelzimmern, Lobbys, Straßen, die der Regisseur auf seinen Reisen benützt, bewohnt, sich einschreibt. Konträr der Blick von José Luis Guerín in seiner Dokumentation Guest, der auf seinen Touren zu Festivals mit den (einfachen, armen) Menschen vor Ort ins Gespräch kommt, deren Welt und Mentalitäten Revue passieren lässt. Dazu auch En Companie d’Eric Rohmer von Marie Rivière und natürlich Notes on an American Film director at Work: Martin Scorsese (R: Jonas Mekas). Nicht nur das Streichholz, nach dem Lauren Bacall 1944 verlangte, sollte in die (Film)Geschichte eingehen, auch die Ansage Leonard Cohens beim legendären Isle of Wight-Konzert 1970, als er um vier Uhr früh die in der Nacht versunkene Menge - 600.000 waren hingepilgert - aufforderte: „Would everybody light a match ... so that we can locate one another.“ Warten auf Restkarten, bei vielen Vorstellungen um 18 oder 20 Uhr sind ein Klassiker der Viennale. Als – lohnende – Alternative bietet sich eine Dokumentation über das Leben in der Mongolei an (La Terra Habitada von Anna Sanmarti Baró). Ruhig, weit, unaffektiert, normal exotisch/ethnologisch. Eigenwillige Formate und Zugänge für Dokumentationen wurden von den Filmemachern gewählt: The Dubai in Me - Rendering the World (ein Vergleich mit Second Life), Double Tide (99 Minuten lang eine einzige fixe Kameraeinstellung. Motiv ist eine Muschelsammlerin im Lichtspiel von Morgennebel, Sonnenaufgang bzw. Sonnenuntergang. Sharon Lockhart zeichnet für die Regie, zuletzt sah man von ihr Lunch Break, 2008 in der Secession), Bruchstücke (Von Martin Bruch, der nicht mehr selbst mit Rad und Kamera reisen kann, sondern eine virtuelle Weltumrundung macht, indem er Reiseaufnahmen anderer auf dem handbetriebenen Rad zu Hause nachvollzieht.); Jie Wo Yi Sheng (Hard Old Rock; über den gebrechlichen, aber regen 83jährigen Chinesen aus wohlhabender Familie, der zig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbrachte und zur Erkenntnis kommt, dass man nur etwas zählt, wenn man Geld hat), Smash his Camera (über den Urvater aller Paparazzi, Ron Galella. By the way - Jackie Kennedy lieferte den Filmtitel), Pink Saris (ein Portrait über Sampat Pal, die energisch für mehr Rechte der Frauen in Nordindien kämpft). Andere Schauplätze sind die Türkei, USA, Italien mit Passione (Regisseur John Turtutto über die Musikszene in Neapel), Ukraine, Schweiz, Israel. Und Österreich. Die verrückte Welt der Ute Bock (Regisseur Houchang Allahyari greift diesmal zu einer Mischform zwischen Dokumentation und Spielfilmszenen, um Situationen von Asylbewerbern facettenreicher darstellen zu können). Nach Sichtung von Bas-Fonds (R: Isild Le Besco, als „verstörend“ und „fast unerträgliche Arbeit“ angekündigt, die Befindlichkeiten von drei jungen Mädchen zwischen abhängig zugetan, agressiv bis mörderisch einfangend), Trash Humpers (R: Harmony Korine. Ebenso als hässlich, entgleister Film beschrieben und so ist es dann auch - ganz unharmonisch) bzw. 9 Leben (R: Maria Speth, die obdachlose ex-drogensüchtige Straßenkids clean vor die weiße Studiowand bittet und interviewt) ergibt sich eine ungewollte innere Logik, Abstufung der Verzweiflung, Irritation der Gefühle und vage Chancen auf Balancierung. Drei Regisseurinnen lieferten einen mehr oder weniger lauten Aufschrei. Und erstaunlicherweise wendet sich die Trash-Frau für einen Moment an „Oh Lord – I dont want to do wrong“ und auch Bas-Fonds endet mit einem Gebet. Noch ein A-propos: Wer den Eröffnungsfilm, den in Cannes mit der Goldenen Palme prämierten Streifen Des Hommes et des Dieux versäumt hat, wird ihn ab Mitte Dezember im heimischen Kino sehen können. Gilt gleichermaßen für den ebenfalls mit der Goldenen Palme prämierten Film Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben (Lung Boonmee raluek chat) von Apichatpong Weerasethaku; Filmstart 4. 11. 2010. Den Trost des erhofften Wiedersehens kann man auch bezüglich Potiche - von Francois Ozon und mit Catherine Deneuve und Gérard Depardieu in den Hauptrollen – mitnehmen. Das stimmt todsicher auch bezüglich Woody Allens You Will Meet a Tall Dark Stranger und unbedingt für Leaves of Grass von Regisseur Tim Blake Nelson mit dem brillanten Edward Norton, der die Doppelrolle zweier – sehr ungleicher – Zwillingsbrüder meistert. Und für das Kurzfilmprogramm und die Retrospektive Eric Rohmer im Österreichischen Filmmuseum gilt es, die Zeit bis 3. November zu nutzen! Dann kann man den Pocket-Guide endgültig zuklappen und zur Abschlussparty gehen.
Mehr Texte von Aurelia Jurtschitsch

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