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Knappe Zeit

„Unser Leben verläuft nach dem Bild eines Bogens. Der höchste Punkt dieses Bogens liegt im 35. Jahr.“ Dante, aus dessen „Convivio“ diese Sätze stammen, ist der Programmatiker der Lebensmitte. 35 zählt er im Jahr 1300, da seine „Divina Commedia“ spielt, „nel mezzo del cammin di nostra vita“. Die Kulturgeschichte kennt ein gewisses Faible für die Wahrnehmung einer Zäsur in den Dreissigern. Jesus ist bekanntlich 33 Jahre alt geworden, und die künstlerisch Frühvollendeten haben es zu dieser Spanne gebracht. Giorgione wurde 31, diese Woche ist es angeblich 500 Jahre her, dass er in Venedig an der Pest, wie der damalige Generalverantwortliche für frühe Tode hieß, starb. „Col Tempo“ hat er seiner Allegorie auf die Vergägnlichkeit mitgegeben, in der Darstellung eines Alters, von dem er weit entfernt blieb. Die Zeit ist knapp. Giorgione (Giorgio da Castelfranco), La Vecchia, c.1502-1503, Öl auf Leinwand, Galleria dell'Accademia, Venedig Raffael wurde 37, desgleichen van Gogh, und Mozart, vielleicht die exemplarische Version, 35. Balzacs Novelle „La femme de trente ans“, in der er dieses Alter als „sommité poétique de la vie des femmes“ apostrophiert, wurde von Ingeborg Bachmann ins Maskuline und ins Trostlose übersetzt: „Das dreißigste Jahr“ schildert die Verirrungen und Verwirrungen einer Zwischenexistenz. Die Literatin war 27, als sie ihre Erzählung schrieb. Ein Jahr jünger war sie, als 1952 ihr erster Lyrikband erschien. „Gestundete Zeit“ ist sein Titel, das Gedicht, das in der Komposition des Buches vor dem titelgebenden erscheint, heißt „Herbstmanöver“. Die Schlusspassage lautet so: „Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht,/mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause./Im Keller des Herzens, schlaflos find ich mich wieder/auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.“ Gestundete Zeit: Womöglich ist es Mitleid, das einen überkommt, und man verspürt jene Wirkung, die Aristoteles kathartisch nannte. Dazu könnte ins Spiel kommen, wofür Elias Canetti den Kronzeugen abgibt, das „Friedhofsgefühl“, jenes leise Triumphieren über die da in den Gräbern liegen, während man selbst an ihnen vorbeiflaniert. Den anderen bei ihrem Unglück zusehen: Wer wollte das nicht. Authentizitätsvorstellungen sind die Abgründe selbst, die sie zu dokumentieren vorgeben. In der gestundeten Zeit jedoch, und darin würde eine Dimension jenseits des Authentischen wirksam, ist man mitgemeint. Es wäre das Wissen um das „Tua res agitur“, um die eigene Angelegenheit, die unhintergehbar wird, vertieft man sich in solche Leben. Was diese Existenzen der Wahrnehmung je nachdem abverlangen oder gestatten, ist Aufschub, das nonchalante „Vorläufig-Noch-Nicht“ oder das sinistre „Aber-Bestimmt-Einmal“ eines absehbaren, im Tod sich vollendenden Status Quo.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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