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Schlingensief

Der Wille zum Wissen. Es ist nicht wahr, dass unser Status Quo die letzten Dinge hinter die Kulissen verbannt. Es wird nicht leise gestorben heutzutage, und es stimmt nicht, dass unser Gesundheitssystem den Tod in die Isolierstationen verbannt. Wie alles, was den Körper betrifft, ist auch der Umgang mit dem Sterben laut. Laut und deutlich. Und so waren die Nachrufe auf Christoph Schlingensief. Was man von ihm halten wollte, war Geschmackssache. Ich habe ihn als einen Aktionisten der dritten Generation gesehen, wobei ich schon den der ersten eher entbehrlich finde. Frank Castorffs Jimi Hendrix-Faible trifft sich mit Jonathan Meeses Mythengegaukel und heraus kommt eine Art Helene Hegemann für zu früh Geborene. Bühnenfechten und Theaterblut als Essenzen eines Daseins im Surrogat. Meinetwegen. Theater-Regisseur Christoph Schlingensief sprach in der ARD-Talkshow Beckmann über sein neues Buch, seine Hochzeitspläne und den Krebs in ihm. Foto: NDR/Morris Mac Matzen Was ich so wenig verstehe wie schon lange nicht mehr etwas, ist der Aufwand, den das Feuilleton mit diesem Tod trieb. Keine Website der großen Tageszeitungen, die nicht mit seinem Ableben aufmachte, Postings en gros, Ganzseiter in den gedruckten Versionen, Meldungen auf der Seite eins. Vor einigen Monaten starb Sigmar Polke, eine ungleich bedeutendere Figur, mit weitaus geringerer Resonanz. Okay, der pinkelte nicht in den Wolfgangsee. Aber ist das die Erklärung? „Schlingensief war einer der größten Künstler, die je gelebt haben“, schickte ihm Frau Jelinek hinterdrein, offenbar ganz ohne Peinlichkeitsgefühl, hier eine Augenhöhe mit, sagen wir, Michelangelo, Shakespeare, Goethe herzustellen. Ist es wirklich der ortsübliche Narzissmus, der davon ausgeht, die eigene spärliche Lebensphase sei ein entscheidender Moment der Weltzeit? Oder muss man einfach nur Mitte August sterben, denn da haben die Bekundungen genügend Platz, sich betroffenheitsökonomisch auszubreiten? Er hatte Krebs, und er ging, wie nennt man das, offensiv damit um. Das tun heute viele, und wenn man dann auch noch ein wenig Sprachkenntnisse hat, schreibt man ein Buch darüber. Wir leben gottseidank in einer Gegenwart, da man nicht damit rechnen muss, dass einen die globale Geschichte überrollt. So kann man die Tragik, die unbenommen bei Krankheiten derlei Ausmaßes im Spiel ist, mir nichts dir nichts zum „Schicksal“ hochspielen. Kultur, so heißt es in einem der vielen guten Gedanken Niklas Luhmanns, erlaubt einem, das Selbstbild als Fremdbild wahrzunehmen. Sieht man sich den „Bahö“ um Schlingensief an, scheint das dann auch schon alles zu sein.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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Ihre Meinung

3 Postings in diesem Forum
Markus Proschek | 25.08.2010 02:12 | antworten
Schlingensief war ein Mensch in dessen Werk sich Leben und Kunst in der Medienrealität vermischen (in jener Realität, in die auch Sie Ihren blog stellen). Die Vermischung und Aufhebung von "Trash" und "Erhabenen", wie sie in der medialen Wirklichkeit ständig präsent ist, bis zum grotesken Exzess zu übertreiben, und dabei noch die Frage nach der Möglichkeit von sozialen Utopien zu stellen, das war meiner Meinung nach Schlingensiefs Leistung (und vielleicht auch für Frau Jelinek). Das kann man mögen oder nicht, die Präsenz und Rezeption weit über den Bereich der Kunst hinaus ist unbestreitbar. Mythengegaukel betreiben Sie mit der Nennung "großer" Namen (die sich jede Gesellschaft neu kanonisiert) in einer Welt, in der Michelangelo für die Meisten maximal in der Form einer mutierten Schildkröte präsent ist. Ansonsten finde ich Ihre Kritik am überzogenen Medien-Hype (Beispiel Hegemann) berechtigt.
Blogger
Peter Fritzenwallner | 26.08.2010 11:48 | antworten
Sehr geehrter Herr Metzger, die Liste der großen Künstler ist erweiterbar, und es gibt zweifelslos mehrere Listen. Es gibt auch die Gegenwart, und da wird Kunst gemacht, vor allem auch die politische Kunst. Ich spreche hier nicht von politischer Kunst von Kuratorengeschmäckern für Kuratorengeschmäcker, wie eben in Berlin geschehen, sonden von einer, die wirklich versucht, nach aussen zu gehen, sei es nun Schlingensiefs Teilnahme an den Bundestagswahlen 1998 mit seiner Partei "Chance 2000" oder die "Ausländer Raus"-Aktion in Wien. Der war so schnell und so nah dran an den Missständen in den Medien und der Gesellschaft, hat sich in die Struktur des Massenmediums als die eigentliche künstlerische Form eingeschleust und diese durch die totale Übertreibung bloßgestellt. Marmor und sperrige Dialoge mögen ja Medien sein, davon fühl ich mich als junger Mensch aber leider nicht so angesprochen wie durch "U-3000" auf MTV. Polke arbeitete genial in einem abgegrenzteren Feld des künstlerischen Geschmacks und Expertentums. Diese beiden Positionen zu vergleichen ist sinnlos, da strukturell komplett verschieden!!! Ja, das ist eine Erklärung, Schlingensief hat sich um die Welt gekümmert, Polke's Welt war in seinen Bildern. Sie sollten sich bewusst sein, dass auch sie, mit ihrem Artikel hier auf den gleichen massenmedialen Zug wie die blogger und Feuilletonisten aufspringen, ich mach das jetzt grad auch mit meinem Kommentar. Mit Benjamin gesprochen, steht der Kunsthistoriker, ganz gefangen in der Rolle des "Engels der Geschichte", ratlos vor den sich entziehenden antiken Trümmern, um diese im geschützten Raum Museum panisch vor dem endgültigen sich-Entziehen zu retten. Sowohl Polke als auch leider schon Schlingensief sind in der Geschichte angekommen. Bei ersterem dürfte es für Historiker nicht viele Probleme geben, bei Schlingensief wirds schon schwieriger werden. Er hat für die Gegenwart gearbeitet, war egomanisch, hat gepöbelt, war Aktionist, wollte besser sein als Harald Schmidt, hat lange vor der "Dogma 95" Bewegung als Kameramann die dynamische Kameraführung in den Film eingeführt, war Regisseur, war Moralist, hat die Church of fear gegründet, hat Hamlet aufgeführt, er hat ein Forum für Krebskranke ins Leben gerufen, hat um sein Leben geredet, hat Menschen entsetzt und begeistert. Was davon bleibt, wird sich wie immer zeigen, aber das ist jetzt erst mal egal. Eine kunsthistorische Kritik dürfte bei dieser Art von Praxis doch etwas zu kurz greifen.
Ihr Kommentar
Tina Bleuer | 07.09.2010 01:04 | antworten
so ein schwachsinniger kommentar herr metzger. ihnen fehlt jegliches verständnis um schlingensiefs arbeit!

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