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Masse und Ohnmacht

Die Lektion von der völlig veränderten Fasson des Menschen im Taumeln und Rumoren mit seinesgleichen hat vielleicht am gründlichsten Elias Canetti gelernt. Ein ganzes Gelehrtenleben hat er für „Masse und Macht“ dreingegeben, der Studie, die Literatur ist und Ethnologie und vor allem auch ein Erfahrungsbericht. Vielleicht kennzeichnet insgesamt nichts besser das 20. Jahrhundert, das mit Fug das schrecklichste war, das die Geschichte gesehen hat, als das Phänomen der Masse, doch Canetti hatte diesbezüglich so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Es ereignete sich am 15. Juli 1927, dem Tag, als der Wiener Justizpalast in Brand geriet. Loveparade, Duisburg 2010 In seinen Lebenserinnerungen „Die Fackel im Ohr“ lässt Canetti seinen Gedanken dazu freien Lauf: „Nichts ist geheimnisvoller und unverständlicher als die Masse“, so erinnert er sich. „Ein für allemal hatte ich hier erlebt, was ich später eine offene Masse nannte, ihre Bildung durch das Zusammenfließen von Menschen aus allen Teilen der Stadt, in langen, unbeirrbaren Zügen... ich hatte erlebt, daß die Masse zerfallen muß und wie sie diesen Zerfall fürchtet... ich sah, daß die Masse auf der Flucht sein kann, ohne in Panik zu geraten... ich erkannte, daß die Masse keinen Führer braucht, um sich zu bilden... wenn es etwas Herausragendes gab, das die Masse entfachte, so war es der Anblick des brennenden Justizpalastes.“ Masse ist das Reizwort in diesem Stakkato an atemloser Reminiszenz und wird es für Canetti bleiben. Es ist ein veritabler Exorzismus, dem er ein lebenslanges Räsonnieren widmet. Geholfen hat es, wie man nach den Ereignissen bei der Love Parade am Wochenende sehen kann, nichts (in Canettis Einteilung des Phänomens „nach dem tragenden Effekt“ gibt es fünferlei Massen: die „Hetzmassen“, die„Fluchtmassen“, die „Verbotsmassen“, die „Umkehrungsmassen“ sowie die „Festmassen“, und auf ihre Art war es eine Mischung aus allen, die sich dort ergeben hatte). Was hätte es auch helfen sollen? Die einzige Lösung ist die einschlägige: Nicht hingehen. Auch Robert Musil war von der Masse in Bann geschlagen. Karl Otten, Musils Freund und Teilnehmer am montäglich stattfindenden „Mokka-Symposion“ im Café Central, schreibt dazu: „Diese Wahl des Platzes war bedingt durch seine Furcht vor der Masse, in der er den Angreifer witterte. Nehmen wir sein Studien- und Arbeitszimmer in der Rasumofskygasse, das am Ende eines langen Korridors lag, von dem aus es durch eine Tür, die einzige, die in das Zimmer führte, betreten werden konnte. Er saß an ihm mit dem Rücken zur Wand, um außer den Fenstern die Tür vor Augen zu haben. Diese Notwendigkeit, die Tür oder Türen beobachten zu können, brachte es mit sich, daß er des öfteren im Kaffeehaus herumstand und wartete, bis einer der drei Tische, die seiner Forderung nach Rückendeckung genügten, frei wurde.“ Die Idee, die Masse in ihrer Überbordendheit und Anonymität könnte ins Arbeitszimmer branden, ist grotesk. Aber sie spiegelt eine Erfahrung, die sich – leider - gehalten hat.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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