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Gabriel Orozco: Mexikanische Wunderkammern

Eigentlich beginnt die Ausstellung des Gabriel Orozco im zweiten Stock des Kunstmuseums Basel mit einem ungewöhnlichen Auftakt. So kommt man an der zweiteiligen Arbeit „Black & White Disaster“ (1972) aus der Car Crash Serie von Andy Warhol vorbei, und sieht sich dann unvermittelt Orozcos einprägsamen Meisterstück „La DS“ (1993) gegenüber; einem modifizierten Citroën DS, der zum motorenlosen, raketenartigen Hochgeschwindigkeitsgefährt stilisiert wurde. Schon in dieser Gegenüberstellung zeigt sich der Respekt des Mexikaners gegenüber den Leistungen der Vorväter, aber auch, wie diese in spielerischer Leichtigkeit überwunden werden können. Orozcos Eingriffe sind eher als markante, mitunter behutsame Refigurationen zu verstehen, da er die grundsätzliche Identität eines Gegenstandes bewahrt. Dennoch verändert er nicht nur den Gegenstand, sondern „zerlegt auch die Erinnerung an ihn, man verändert die Erinnerung,“ wie Orozco sich hierzu äussert. Dieses Prinzip findet sich in den „Four Bicycles“ (1994), vier ineinandergesteckten Fahrrädern, ebenso wie im „Elevator“ (1994) wieder, einem auf die Körperhöhe des Künstlers zurechtgeschnittenen Aufzug. Die Basler Ausstellung folgt mit ihren acht Räumen einer anregenden Dramaturgie, dessen Zentrum die „Working Tables“ (1991-2006) sind. Lässt sich Raum 1 mit „La DS“, „Four Bicycles“ und „Recaptured Nature“ (1990) durchaus auch als eine Hommage ungewöhnlicher Fortbewegungsmittel lesen, so schaffen in Raum 2 fotografische Gegenüberstellungen einen wahren Kosmos vergänglicher („Breath on Piano“, 1993) anmutiger („Simon’s Island“, 2005) und erfrischender („Cats and Watermelons“, 1992) Eindrücke. In „My Hands Are My Heart“ (1991) bringt Orozco den vergänglichen Augenblick und die tiefe Melancholie zahlreicher seiner Objekte auf den Punkt. In Raum 3 prallt die Vertikale des stillgelegten „Elevator“ (1994) auf die Horizontale der aus Tausenden von Telefonnummern montierten Leserolle „Dial Tone“ (1992) und auf die Zeichnung „Untitled Finger Tone“ (1995). Alle drei sind durchaus auch als Werke zu verstehen, die unterschiedliche Automatismen rhythmisierter Zeitlichkeit aufzeigen. Nun folgen in Raum 4 die „Working Tables“ (1991-2006). Inmitten der Abfolge gelegen, dürfen diese als Herzstück und Index, Asservatenkammer und Laboratorium ganz im Sinne der Bibliothek von Borges verstanden sein. Dank Mitteln der Karl und Margrith Schaub-Tschudin-Stiftung ist es Kunstmuseumsdirektor Bernhard Mendes Bürgi gelungen, diese zentrale Arbeit für Basel zu sichern. Mit der Anmut von Mantarochen schweben die organischen Metamorphosen der aus Polyurethanschaum gefertigten „Spumes“ (2003) durch Raum 5, wohingegen sich in Raum 6 bereits Gesehenes wieder findet. Das tönerne Herz von „My Hands Are My Heart“ (1991) symbolisiert gemeinsam mit einer Fülle unterschiedlichster Objekte, wie „Pelvis“ (2007) oder „Seed“ (2005) den menschlichen Körper. Passend dazu der Korpus der Gesellschaft und seiner Formen, dargestellt durch kreisförmige ornamentale Strukturen auf Geldscheinen und Werken aus der Serie „Atomist“ (1996) mit überarbeiteten Sportmotiven aus Zeitungen. Im Raum 7 finden diese Ordnungssysteme in den Gemälden von 2004 ihre Fortführung und erinnern in ihrer unendlichen Formführung an die AlgoRythmen eines Karl Gerstner. Mit „Horses Running Endlessly“ (1995), einem überdimensionalen, vierfarbigen Schachbrett mit 256 Feldern und 60 Springern, werden die gemalten Kreise und ihr Reichtum an Variationsmöglichkeiten schließlich in den dreidimensionalen Raum überführt und der zeitlichen Begrenzung eines Schachspiels enthoben. Angesichts dessen wirkt der schwarz-weiß karierte Totenschädel „Black Kites“ (1997) wie ein Memento Mori. Diese Mahnung vor Augen, den „Eyes under Elephant Foot“ (2009) folgend, findet die Ausstellung in den „Lintels“ (2001/2010) in einem überraschend leichten und dennoch melancholischen Ausblick ihren würdigen Abschluss. Über 8 quergespannte Drähte hängen 18 unterschiedlich große Trocknerflusen in allen denkbaren Grauschattierungen und geben den Blick auf Wilhelm Lehmbrucks weiblichen Torso (1910) frei. Das Vergängliche wird zeitlos; der Reigen zu Andy Warhols Car Crash ist somit geschlossen. Dazwischen die mexikanische Wunderkammer Gabriel Orozcos mit all ihren absonderlichen Kostbarkeiten.
Mehr Texte von Harald Krämer

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Gabriel Orozco
18.04 - 08.08.2010

Kunstmuseum Basel
4051 Basel, St.Alban-Graben 16
Tel: 0041-61-206 62 62
http://www.kunstmuseumbasel.ch
Öffnungszeiten: di, do-so 10-17 Uhr, mi 10-19 uhr


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