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Kirchner

Reform, Leben in Licht und Luft, Freikörperkultur, Eurhythmie und Eugenik: Dass die Moderne unwiderstehlich und bahnbrechend war, gehört zum Standardwissen, das eben diese Moderne nur allzu gern von sich geprägt hat. Das Revolutionäre allerdings bedarf auch hier des Evolutionären, und eben davon legen die Bilder Ernst Ludwig Kirchners Zeugnis ab. Ein Hinaus ins Freie wird propagiert, nackt und natürlich soll es zugehen, unbelastet vom Erbe der Zivilisation und den Schlacken der Spätzeit. Fortan wollte man es besser machen: in Ungezwungenheit und frohem Mut. Die wissend-willentliche Programmierung einer neuen Naivität ähnelt durchaus dem berühmten Psycho-Appell des „Sei spontan“. Doch die Moderne lässt sich ohnedies nur verstehen mit einem gewissen Faible für die Paradoxie. Das Frankfurter Städel Museum zeigt jetzt eine Retrospektive des „Brücke“-Veteranen Ernst Ludwig Kirchner. Am meisten noch unter allen Vertretern des Expressionismus scheint Kirchner ein Großstadtmaler zu sein. Kein Wunder: 1911 war er von Dresden nach Berlin gekommen, und tatsächlich hat er das bunte Leben auf der Straße bald ins Visier genommen. Kirchner hat metropolitanes Leben festgehalten, doch in erster Linie hat er Übersetzungsversuche angestellt mit dem expressionistischen Menschheitsjargon. Entsprechend bevölkern Prostituierte bisweilen seine Szenerien, doch bei aller Nonchalance ihres Gebarens dringt der Eindruck von Geworfenheit und Ausgesetztheit durch, der ihnen auf den Gehsteigen und in den Nachtbars stets den Vorwurf mitgibt, dass sie doch eigentlich nach Hause gehören und nicht in die große Stadt. Dem Expressionismus ist in solchen Hinweisen auf das unzuträgliche Leben etwas buchstäblich Provinzielles eigen. Deutlicher, passender, drastischer sind die Anleihen beim Primitivismus. Ernst Ludwig Kirchner, Stafealp Derlei Anleihen entsprechen dem Zeitalter des Kolonialismus, doch das Prinzip Kolonie bedeutete insgesamt nicht weniger als einen Lebensentwurf. Man selbst suchte die Ferne, sei es die topografische in der weiten Welt zum Beispiel der Südsee, oder jene in psychisch-physischer Distanz zu allem, was nicht ästhetisch war, zu Geschäft und Gesellschaft. Malerkolonien schossen aus dem Boden, ständig eingerichtete wie etwa in Worpswede, oder temporäre, wozu auch die Ferienaufenthalte der „Brücke“-Vertreter gehören. Dann malte man beispielweise auf der Ostseeinsel Fehmarn: Fremde kann überall sein. Dass die Distanz zur Gegenwart der Zivilisation nicht unberechtigt war, sollte dann der Erste Weltkrieg erweisen, und Kirchner hat den Preis eines Nervenzusammenbruchs dabei gezahlt. Mühsam nur stellte sich seine Gesundheit wieder her, Kirchner gründete, um seine Labilität wissend, seine Solo-Kolonie und zog im Juli 1918 in die Schweizer Berge. Auf seiner Alm in der Nähe von Davos hat er dann die Alpen belauscht. Das Apokalyptisch-Dräuende, das dem Expressionismus von Anfang an eigen war und das sich auf den Schlachtfeldern als nackte Realität zur Kenntlichkeit gebracht hatte, ist auch diesem scheinbar so anmutigen Ambiente nicht fern: Der Brunnen ist blutrot umrändert, der Weg schlierig-klaffend, der Sonnenstand ein loderndes Feuer. Kirchners Welt ist fragil.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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