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Anish Kapoor - Memory: Überraschungsei

Dem ersten Eindruck nach sehen wir uns hier etwas befremdlich Groteskem gegenüber. Denn was immer es ist, das sich da vor uns auftürmt, es scheint durchaus nicht hierher zu gehören, scheint völlig versehentlich in die Deutsche Guggenheim geraten zu sein: Ein rostroter Koloss liegt da nämlich wie gestrandet, hoffnungslos verkeilt zwischen Wänden, Decke und Fußboden des nun bedrückend engen White Cube. Es ist mithin, als hätte hier ein vorläufig unbekanntes Objekt irgendwie Havarie erlitten: ein Unterseeboot? Ein Luftschiff? Gar ein Ufo in der Art eines Riesen-Eis? Dieses Rätsel wird sich jedoch auch im Weiteren nicht lösen, im Gegenteil, es werden noch andere hinzukommen. Denn der Turner-Preisträger Anish Kapoor hat seine ortsspezifische Installation „Memory“ – natürlich eine Auftragsarbeit – so eingerichtet, dass dem Betrachter die eventuell Aufklärung versprechende Allansichtigkeit verwehrt bleibt, weil er das Objekt ja schließlich nicht umrunden kann; was dazu führt, dass einem die beiden zugewiesenen Perspektiven – einmal vom Haupteingang her, während die andere Seite über den extra hierfür dienstbar gemachten Notausgang zu erreichen ist – zwei doch merklich verschiedene Hälften zeigen, die je eigene Schlüsse auf die Form und Größe des Ganzen nahe legen, wodurch letztlich also nicht nur das Was, sondern auch das Wie des Objekts fraglich wird. Jene Asymmetrie ist aber wiederum nur Teil einer grundsätzlichen Ambivalenz, die diese Arbeit so deutlich auszeichnet, ja mit der sie wohl auch durchaus vorsätzlich spielt und die um die Pole Statik/Dynamik sowie Schwere/Leichtigkeit kreist: Denn die Skulptur, die – ein Novum in Kapoors Materialwahl – aus Corten-Stahl gefertigt wurde, wirkt trotz ihrer beeindruckenden 24 Tonnen, für die der Boden in der Guggenheim dann auch verstärkt werden musste, erstaunlich schwerelos, was daran liegt, dass man ihr, erstens, aufgrund ihrer geringen Auflagefläche wenig Lastendes, Drückendes ansehen möchte und ihr, zweitens, wegen ihrer Ballonhaftigkeit ohnehin etwas Leichtes, ja Levitatives eignet; womit auch gleich die zweite Dichotomie, nämlich ihre unterbundene Bewegung, mit angesprochen ist, ist einem Ballon doch wesensmäßig ein Bewegungsmoment eingeschrieben, das hier aber gleichsam gewaltsam an seiner Aktivierung gehindert wird: Der Ballon steckt einfach fest. Aber damit nicht genug der unauslotbaren Zwiespältigkeiten, die diese Arbeit zu konstituieren scheinen. Kapoor hat es sich nämlich noch zusätzlich einfallen lassen, uns auch die Innenwelt der Skulptur zu erschließen: Über den Museumsshop gelangen wir so zu einem Durchbruch in der Mauer und sehen – nichts. Genauer: ein schwarzes Nichts. Ins Kunsthistorische übertragen: Wir sehen eine schwarze Fläche, die wohl nicht ganz zufällig an Malewitschs nämliches Quadrat erinnert. Erst wenn wir näher hintreten, beginnt dann unser Blick allmählich, den sich dahinter auftuenden Raum wahrzunehmen, seine eigentliche Ausdehnung zu erkennen oder besser zu erahnen. Denn auch hier gilt, dass das Ganze – aufgrund der ausgeklügelten Platzierung der Maueröffnung – nicht auf einmal zu erfassen ist. Der Innenraum, der Bauch der Skulptur ist folglich von derselben Unermesslichkeit wie ihre Außenhaut, ihre Größe ist für den Einzelnen letztlich nicht objektiv zu ermitteln. Der Betrachter ist somit bei der Beurteilung der Skulptur ganz auf sich selbst zurückgeworfen, muss die verschiedenen, im Gedächtnis aufbewahrten Ansichten – die Arbeit heißt schließlich nicht umsonst „Memory“ – im Geiste zu einer einheitlichen Vorstellung zusammensetzen. Womit sich „Memory“ umgekehrt als ein im rezeptionsästhetischen Sinne „offenes Kunstwerk“ erweist, das zu seiner Vervollständigung nach ebenjenem Betrachter verlangt; ein Umstand, der übrigens in dem offenen Mauerfenster ein treffliches Symbol findet; wobei dieses Fenster in seinem Oszillieren zwischen Zwei- und Dreidimensionalität aber ferner auch noch für Albertis finestra aperta einstehen könnte; und der darin angelegte Illusionismus wiederum auf Platons Höhlengleichnis verweisen mag, dessen grundsätzliche Anordnung – der Blick in eine Kaverne, von hinten einfallendes Licht, Schattentheater – sich hier annäherungsweise wiederholt findet. Kurzum: „Memory“ stellt uns vor eine große ästhetische, phänomenologische und epistemologische Herausforderung. Und was immer das vollbringt, muss wohl auch große Kunst sein.
Mehr Texte von Peter Kunitzky

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Anish Kapoor - Memory
30.11.2008 - 01.02.2009

Deutsche Guggenheim Berlin
10117 Berlin, Unter den Linden 13 - 15
Tel: 0049 (0) 30 20 20 93 0, Fax: 0049 (0) 30 20 20 93 20
Email: berlin.guggenheim@db.com
http://www.deutsche-guggenheim-berlin.de


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