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Meister W.S.

Mythen leben davon, dass man sie aktualisiert. Man kann sie nur verstehen, indem man sie erzählt, und entsprechend sind sie ist nicht ausgestorben, sondern erweisen ihre Wirkung bis heute. Da treiben sie dann ihren Unfug als Mythen des Alltags, wie es bei Barthes heißt, man kann mit ihnen Bestseller schreiben wie Roberto Calasso oder in die Abgründe tauchen, wie Freud es unternahm mit seinem Begleiter Ödipus. So verwundert die Bescheidenheit, mit der das Kunsthistorische Museum gerade den „Mythos Antike“ ausmisst. Die unter diesem Titel firmierende Präsentation ist das Abschiedsgeschenk des Generaldirektors, der zwar, wie es im Vorspann heißt, „Ägyptologe, Archäologe, Kunsthistoriker“ in Personalunion ist, aber den Mythos, wir zitieren weiter, „als stets gleich bleibende Welterklärung und Veranschaulichung alter Weisheit“ doch weit im gut Abgehangenen lässt. Wilfried Seipel, der Antiquar, der Historiker, der Wissenschaftler der Weltreiche, dem alles fremd ist, was die Imperien der Gegenwart angeht? Nein, das kann nicht sein. Wenn also die Ausstellung, deren Idee „von Wilfried Seipel selbst“ stammt, herausragende Bilder vereint, Leihgaben, erbeten „von den bedeutendsten Partner-Institutionen“ des Hauses am Ring, so kann der Hieb zum Heute nicht ausbleiben. Ist also Seipel nicht doch, wie der seltsam melancholische Mars von Velazquez aus dem Prado, selbst der am momentanen Frieden (Ver-)Zweifelnde? Der Lichtbringer wie Dirk Baburens Prometheus aus dem Rijksmuseum? Der Zielstrebige, der wie Amor bei Paris Bordone aus Warschau der Venus den Unterleib anvisiert? Der Verkannte wie Mengs, dessen Perseus die Eremitage entsandte? Oder nicht wenigstens die Weisheit aus dem Morgenlande wie bei Giorgiones Drei Philosophen, die von drei Fenster weiter aus einem der KHM-Kabinette kam? Die Drei Philosophen, so schreibt der Scheidende im Dankeswort des Katalogs, sei sein Favorit. Das Werk, und jetzt müssen wir ganz genau zitieren, das „als mein Lieblingsbild meine nicht immer nicht einfache Zeit als Generaldirektor verklären half.“ Nicht immer nicht einfach? Also doch stets ganz simpel? Und Verklären? Gibt es da was zum Auratisieren? Ein Druckfehler gerade an dieser Stelle? Jedenfalls lebt der Mythos, jener zumindest, für den Freud zuständig ist. Mein erster Text, den ich für den Standard schrieb, handelte von Seipel. Mein letzter Text, den ich für den Standard schrieb, handelte von Seipel. Beide Male hat er sich beschwert, nicht zu reden von der Zeit dazwischen. Er war eine Figur. Leben Sie wohl, Herr Generaldirektor. Es wird uns was fehlen.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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