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Annahmezustand

Hysterie, zu Zeiten Freuds noch das Privileg der Frauen, ist ins Kunstfach gewechselt. Ob das ein Zeichen für die Feminisierung der Welt ist, sei dahingestellt. Eher für ihre Normalisierung. Und mit der Tatsache, dass die Lage ist, wie sie ist, und dass daran womöglich auch nichts weiter festzustellen wäre, hat die Kultur ihr Problem. Zwar kann sie Transgender ins Visier nehmen, Mohammed-Karikaturen oder, wie es einst bei Asterix so schön zur Sprache kam, die „verzweifelte Lage der Brassica-Bauern in der Region Pisa“. Aber mit einem „Museum of European Normality“, wie es die Manifesta gerade in Trient aufgebaut hat, wird es schwierig. Dann verliert man sich in Vitrinen mit Werbematerial. Wie Freud es nicht unbedingt in Planung hatte, hängt in der Gegenwart die Hysterie mit dem Narzissmus zusammen. Wenn sich ein Kulturfuzzi nämlich dazu aufwirft, sich mit etwas zu beschäftigen, dann hat es besonders zu sein. Allein schon qua Selbstermächtigung. Roger Wilemsen etwa hat vor einigen Jahren eine „Deutschlandreise“ gemacht. Gottseidank hatte man ihm das Diktum von den „No-Go-Areas“ mit auf den Weg gegeben, doch seine Enttäuschung, dass nicht an jeder Ecke ein Blockwart und an jedem Dorfeingang eine Selbstschussanlage auf ihn – auf IHN! – wartete, musste er sich von der Seele schreiben. Ein stinkbanaler Balkon durfte sich immerhin als „Kleinbürgers Freigehege“ herausstellen. Weniger wäre nicht Willemsen. Und seinesgleichen. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Carl Schmitts notorischer Anfangssatz seiner „Politischen Theologie“ von 1922 spukt in den Hirnen der Diagnostiker. Das hat nichts mit Politik zu tun, doch womöglich steckt dahinter so etwas wie Theologie. Auto-Theologie, denn schließlich war auch Gott ein Künstler. Dass Giorgio Agamben, der beflissenste Schmittianer mit seinen verwegenen Gedanken von der Realität als Konzentrationslager, seine spezielle Konjunktur hat, gehört dann zu dieser Art von kultureller Normalität-über-den-Ausnahmezustand. Der Hauptvertreter des Hysteriejargons ist Peter Sloterdijk. Bei ihm kommt endgültig zur Kenntlichkeit, wie sich Ausnahme- und Annahmezustand gegenseitig hochschwadronieren. Meine Lieblingsformulierung von ihm ist die vom Baby als „Ich-Komme-Projektil“, in die Welt gesetzt in der „Sphären“-Trilogie. Man muss es sich gleichsam auf der Plazenta zergehen lassen: das Neugeborene als Kaliber, der Uterus als Dicke Berta, die Geburt als Weltkriegsteilnahme. So hat es es sich die Hochschwangere immer schon vorgestellt. Und so hat es der Hohe Denker immer schon gewusst. Hysterie als Privileg des Mannes.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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