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Erbe aus Beton - von Le Corbusier zu den Homeboys: Beton als Kultur-Hebel

Als Gegenstand thematischer Ausstellungen in Kunstinstitutionen ist Architektur ausgesprochen rar geworden. Sie ist entweder zu rational und nicht ausreichend subjektiv oder die Architekten streben für den gegenwärtigen individuellen Kunstgeschmack allzu sehr nach universellen Werten. Die Zeit der Synergien zwischen Kunst und Architektur im westlichen Kunstbetrieb scheint momentan nicht gegeben zu sein. Vor diesem Hintergrund bildet das drei Jahre lang vorbereitete Projekt "Das Betonerbe - von Le Corbusier zu den Blokers" im Warschauer CSW Zamek Ujazdowski eine willkommene Abwechslung. Es ist der Erfahrung und dem Phänomen der "grauen" Wohnsiedlungen, den sogenannten Plattenbauten, die immer noch das Dasein und Bewußtsein von Millionen von Bewohnern in Osteuropa determiniert, gewidmet. Corbusiers Idee der Wohnmaschine gilt als der Ausgangspunkt für diese sich rapid ausbreitete, eintönige Beton-Epidemie, die in Polen auch als Geburtstätte jener Art von Pathologie insbesondere der Subkultur der Blokers (Homeboys, heimischer hip-hop) gesehen wurde. Die Ausstellungsgestaltung mit ihrer formal-medialen Vielfalt von Literatur bis Video und psychologisch unterwandernden Kabinetten ist mitteilsam und überrascht durch ihre Professionalität. Sie beginnt heiter-banal mit der Paraphrase der längsten Betonkonstruktion von Corbusier - dem ein Kilometer langen Wohnkolosses in Gdansk - den Julita Wojcik den modernen Gigantismus zähmend in rosa-weißer Wolle gestrickt hat - und sie endet mit Corbusiers Entwürfen einer strahlenförmigen Stadt am Beispiel von Marseille aus dem Jahr 1938. Die Ausstellung beeindruckt durch eine Menge von gemalten (Karolina Zdunek), fotografierten (Wojciech Wilczyk) und nachgestellten (Maciej Kurak) Rastern, Gittern und Blöcken, deren Vorlage diverse Fassaden und räumliche Anordnung der grauen Netzbauten der 1970er bildet. Die engen und provisorischen Innen-, Außen und Obenansichten (Katarzyna Józefowicz, Hieronim Neumann, Aneta Grzeszkowska) der industriell fabrizierten Architektur für die obdachlose Masse vervollständigen das Gesamtbild. Die rauhe Ästhetik der Bauplatte prägt nahezu obsessiv überhaupt das Schaffen mehrerer junger polnischer Künstler wie die düster-desolaten Baugerippe von Szymon Kobylarz oder die seltsam gemütlichen Wohnsiedlungsbilder von Jarek Jeschke. Neben bereits mehrmals im CSW präsentierten Arbeiten wie "Bródno 2000" von Pawel Althamer oder die Filme von Jósef Robakowski sind auch neue soziale Spezialprojekte zu sehen. Eines davon zeigt ca. 200 Bilder und Wandobjekte, die Ryszard Górecki von den Bewohnern des vom Utopisten Oskar Hansen besonders befremdlich kozipierten Wohnhauses in Przyczólek Grochowski in Warschau ausgeborgt hat. Die Kitsch-Sammlung, die er aufgebaut hat, ist kaum als modern zu bezeichnen und widerspricht der Idee des ständigen Fortschritts. Der Tenor der Ausstellung ist trotz aller Vorurteile diesem Thema gegenüber optimistisch und inspirierend. Wer hier heftige Kritik oder nur Gespenster sucht, ist fehl am Platz. Einige KünstlerInnen wie Jaroslaw Kozakiewicz oder Agata Groszek haben in Einzelfällen sogar nahezu paradistische Verbesserungsvorschläge für bestehende Wohnblöcke parat. Die polnische Künstlerschaft und Ausstellungskuratoren scheinen auf das Erbe des Betons mit Stolz und Hoffnung zurückzublicken. Villem Flusser meinte einmal, dass es "das heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür nur noch in Märchenbüchern gibt". Und offensichtlich (oder tatsächlich) auch in der (polnischen) Kunst.
Mehr Texte von Goschka Gawlik

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Erbe aus Beton - von Le Corbusier zu den Homeboys
29.06 - 02.09.2007

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