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Novellen

Der Magnumfotograf und Filmemacher Martin Parr hat eine große Leidenschaft: Sein Interesse für alltagskulturelle Themen und Motive konkretisiert sich nicht nur in seinen eigenen künstlerischen Arbeiten (man denke etwa an die Serien "Boring Postcards"), sondern auch in seiner seit Jahrzehnten wachsenden Sammlung von Fotobüchern. Von den ca. 7000 Exemplaren, die er sein Eigen nennen kann, fanden bereits einige hundert Eingang in den 2004 erschienenen ersten Band von "The Photobook. A History", für den Parr - wie auch bei der zweiten Ausgabe - zusammen mit dem Kritiker und Kurator Gerry Badger verantwortlich zeichnet. Nach der prinzipiellen Etablierung dieses bis dahin weitestgehend sträflich unbeachteten Kapitels der Fotografiegeschichte - und der daraufhin erfolgten enormen Wertsteigerung auf dem Kunstmarkt, der diese ehemalige Nische nun auch erobern konnte - liegt der Fokus nun bei verhältnismäßig neueren Entwicklungen, etwa in den USA und Europa oder auch im Hinblick auf dokumentarische Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. seit den Bechers. Während die Einleitungen zu den jeweiligen Kapiteln mehr anekdotenhaft kursorische Streifzüge bieten, werden anhand der kurzen, subjektiv formulierten Erläuterungstexte zu den einzelnen Abbildungen immerhin die Auswahlkriterien deutlich - eine weniger wissenschaftliche Herangehensweise, dafür Dilettantismus im besten, eigentlichen Sinne. Und auch wenn die Buchkonzeption insgesamt fragwürdig erscheint (man könnte fast glauben, die nicht sonderlich scharfen Rubrizierungen würden bewusst unterwandert), so liegt das Hauptaugenmerk doch eindeutig auf dem formidablen Bildmaterial. Von jedem besprochenen Buch sind Cover und mindestens eine aufgeschlagene Doppelseite wiedergegeben, sodass auch der Objektcharakter, die physische Qualität dieser bibliophilen Werke nachvollziehbar wird. Faszinierend die diversen Seitengestaltungen, der Umgang mit dem Format und den zumeist sehr sorgfältig ausgewählten Materialien (die Stofflichkeit des Papiers, die Farben), die textlichen wie (typo-)grafischen Ergänzungen - kein Wunder, dass das Fotobuch zu einem beliebten Betätigungs- und Experimentierfeld bzw. so begehrten Sammelobjekt wurde. Wenig Verständnis hatte man noch bei den surrealistischen livres d`artiste etwa von Louis Aragon, Benjamin Péret und Man Ray ("1929"), dessen pornografische Darstellungen dazu führten, dass die Bücher haufenweise konfisziert und zerstört wurden. Dennoch bestand damals gerade an dem distributionstechnischen Potential das Interesse, während Ed Ruschas "Twentysix Gasoline Stations" von 1963 aufgrund des innovativen Umgangs mit der Fotografie als ein Meilenstein gilt. Andy Warhol bewies mit dem als exuberant bezeichneten "Index Book" (1967) einmal mehr seinen enormen Einfallsreichtum in der Auseinandersetzung mit dem spezifischen Medium, er experimentierte mit der haptischen, dreidimensionalen Qualität des Buchs wie auch mit der Bewegung des Lesens (z.B. in Form eines "Akkordeons", das sich zwischen zwei Seiten auffaltet). Hier wird zudem die tagebuchähnliche Intimität solcher Editionen spürbar, was auch für Dick Jewells "Found Photos" (1979) gilt, dessen Idee des Rekonstruierens weggeworfener Automatenfotos eher von Amélie Poulain in Erinnerung sein dürfte. Anderswo steht die Dringlichkeit der Reportage im Vordergrund, sei es in den verschiedenen Aufarbeitungen des Holocausts oder im Werk von James Nachtwey oder David Goldblatt. Als eine andere, nicht primär künstlerisch motivierte Form wäre schließlich noch die der Firmenfotobücher zu nennen, die besonders kulturgeschichtlich aufschlussreich ist. Nicht die große Geschichtsschreibung wurde hier betrieben, sondern in nuce viele Episoden enthusiastisch erzählt. Martin Parr & Gerry Badger The Photobook: A History (Volume 2) Phaidon Press, New York 2006 Englisch, 336 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen 29,8 x 26 x 3,8 cm, gebunden ISBN-10: 0714844330 € 75.00 www.phaidon.com
Mehr Texte von Naoko Kaltschmidt

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