Werbung
,

Dokumente von Dissidenzen

Es mag als mittelprächtiger Misserfolg erscheinen, wenn eine Zeitschrift gerade mal zwei Jahre überdauert und dabei ganze 15 Ausgaben zustande bringt. Im Paris der 1920er Jahre hatten Magazinpublikationen zu einem kaum überschaubaren Ausmaß geführt, und trotzdem handelt es sich bei "Documents" um einen Sonderfall, bei dem höchst spannende Ansätze wie Persönlichkeiten - wenn auch wahrlich nicht konfliktfrei - aufeinanderstießen. Abtrünnige des von André Breton angeführten Surrealismus (welcher die zweifellos breitenwirksamere Fraktion stellte) waren es, die sich um Georges Batailles und Carl Einsteins Vorhaben fanden. Neben Künstlern wie Giacometti, Brancusi, Dalí oder Picasso (dem ein eigenes Sonderheft dediziert wurde) sowie einer beachtlichen Schar an Fotografen, etwa Brassaï, Man Ray oder auch Blossfeldt, sind es wesentlich und programmatisch Intellektuelle wie Michel Leiris aus verschiedenen Bereichen der Humanwissenschaft, die für den Inhalt verantwortlich zeichnen. Die Begriffe "Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnologie, Variété" im Untertitel der ersten Ausgabe von 1929 umreißen bereits die konzeptionelle Ausrichtung des editorischen Experimentes: Das Prinzip dieses magazine illustré war ein primär interdisziplinäres und komparatistisches, wodurch nie dagewesene Bildrhetoriken entfacht werden sollten - um nichts weniger als die Dekonstruktion der bisherigen Kunstgeschichtsschreibung ging es, die nach Carl Einstein den "Kampf aller visuellen Erfahrungen, der erfundenen Räume und Darstellungen" bedeuten sollte. Die gezielte Disposition und Neuordnung von maßgeblich diversem, also nicht bloß (kanonisch) kunsthistorischem Bildmaterial ergab diese neuartigen, wiewohl durchaus mit dem Warburgschen Mnemosyne-Atlas vergleichbaren Gegenüberstellungen visueller Zeugnisse; leider kam es jedoch nie zu der von Einstein angestrebten Zusammenarbeit mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek in Hamburg. Der als "Generalsekretär" der Zeitschrift angeführte Bataille strebte auch, allerdings auf anderen Pfaden als Einstein, eine Überwindung des Althergebrachten an; was den Umgang mit Bildern betrifft, ergab sich bei ihm, der sich nicht nur literarisch und philosophisch betätigte, sondern etwa auch langjähriger Mitarbeiter der Bibliothèque nationale war, eine Nähe zu dem Filmemacher Sergej Eisenstein, dessen "Montage der Attraktionen" Batailles Konzept des Heterogenen entspricht, das sich im explosiven Moment faszinierten Erschreckens offenbart, wenn alles Vertraute, (bürgerliche) Routine und Kategorien der Nützlichkeit und Normalität suspendiert sind. Konkret hatte dies zur Folge, dass neben der zeitgenössischen Kunst etwa antike Münzen, mittelalterliche Handschriften, die einzigartigen Porträtskulpturen von Messerschmidt oder auch Werbegrafiken, Stills aus Hollywoodfilmen und andere Beispielne aus Trivial- und Populärkultur, ja sogar eine Zeichnung der neunjährigen Tochter André Massons ihren - ebenbürtigen - Platz fanden. Diese regelrechte Wunderkammer im Printformat sollte als ein Museum des Verschütteten und Verdrängten fungieren, in dem Bataille Typologien der Konfusion und seine Poetologie des Realen entwickeln konnte. Auch in "Undercover Surrealism" wird auf vorzügliche Weise Text- mit Bildmaterial konfrontiert, neben einigen Essays und (Neu-)Übersetzungen sowie Faksimile der originalen Magazinseiten wurde den Einträgen aus dem (enzyklopädische Normen freilich ad absurdum führenden) "Kritischen Wörterbuch" am meisten Raum geschenkt, welches fixer Bestandteil der Zeitschrift war; sie sind ebenso mit wunderbaren Abbildungen in Dialog gesetzt. Nach dem großen Erfolg der Londoner Schau in der Hayward Gallery überrascht es also keineswegs, dass dieser grandiose Ausstellungskatalog über ein faszinierendes wie einzigartiges Periodikum nun auch mit einer Auszeichnung bedacht wurde. Dawn Ades, Simon Baker: Undercover Surrealism. Georges Bataille and DOCUMENTS 272 Seiten (Englisch) MIT Press, 2006 EUR 39,28 ISBN: 0262012308 mitpress.mit.edu/main/home/default.asp www.hayward.org.uk
Mehr Texte von Naoko Kaltschmidt

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: