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Die Ein-Viertel-Kritik

Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Kritik über das Kunsthaus Graz zu schreiben. Sie kommen am Bahnhof in Graz an, nehmen die Straßenbahn in die Innenstadt, verlassen sie an der Haltestelle vor dem Kunsthaus und finden vor sich diese perfekte gusseiserne Architektur, die Ihnen das Herz im Leibe so freudig schlagen lässt. Sie betrachten das Wunderwerk noch eine Weile und fahren dann frohgemut nach Hause, wobei Ihnen die höchst wohlgesonnene Rezension bereits im Zug in die Tastatur Ihres Laptops fließt. Dass sich hinter dem Eisen ein Ballon bläht und die Ziselierung ins Aufgeplusterte übergeht, davon haben Sie ja nichts gesehen. So ähnlich ist jetzt der Literaturkritiker Burkhard Müller verfahren, als er sich in der "Süddeutschen Zeitung" an Thomas Pynchons neuem Roman abarbeitete. Ganz freimütig gibt er zu, sein Text sei ein "Bericht, der sich schon nach einem runden Viertel des Weges hervorwagt". Mehr hat er noch nicht absolviert, doch er mag bereits bekunden, dass bei aller Pynchon-üblichen Naturwissenschaftlichkeit Thomas Alva Edison in diesem Buch nicht auftritt, "wenigstens bis Seite 289". Angesichts der 800 Seiten, die noch vor ihm liegen, ist das durchaus eine mutige Prognose. Weniger mutig ist es, dass Pynchon schon ziemlich ungelesen sehr gut wegkommt. Natürlich hat die Literatur gegenüber den simultanen Künsten einen gewaltigen Rezeptionsnachteil, und der Verfasser dieser Glosse bekennt gerne, dass er sich genau deswegen beruflich mit Bildern herumschlägt, obwohl ihm im Grunde Texte sympathischer sind. Die reine Aufnahme der ästhetischen Daten geht viel zügiger vonstatten, auch wenn man über ein Gemälde selbstverständlich so lange nachdenken kann wie über einen Roman. Aber um zu erfassen, worum es geht, tun einem die Bilder doch einen großen Gefallen. Ein solches Entgegenkommen blieb Herrn Müller leider versagt. Im vorletzten "Merkur" zieht sich ein eigenartiger Subtext durch die Essays, und er handelt von der Qualität des deutschsprachigen Feuilletons. Während der Herausgeber Karl Heinz Bohrer erwähnt, "dass dessen Sinndeutungen sehr oft nerven", spricht Hans Ulrich Gumbrecht davon, "dass es derzeit mindestens fünf überregionale Tageszeitungen in deutscher Sprache gibt, deren Feuilletons international unerreicht sind" (stellen wir für den Moment die Frage hintan, ob vier der fünf womöglich in Österreich beheimatet sind). Norbert Bolz wiederum konstatiert kurz einen "Niedergang der Presse". Wer immer recht hat, Müller bestätigt sie alle. Müller ist so gut, dass er auf Pynchon steht, und sein Feuilleton ist so gut, dass es sofort eine Rezension braucht. Und miteinander sind sie so schlecht, dass sie völlig davon absehen, dass dieses Verfahren schlicht Humbug ist.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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