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Melancholie - Genie und Wahnsinn im Abendland: Kampf gegen die Schwerkraft

Was ein guter Ausstellungsmacher ist, so hat er seine Lieblingsgestalten in petto, die in jede Schau passen. Harald Szeemann zum Beispiel liebte seine Gesamtkunstwerker, die verschrobenen Bastler, die irgendwo in Zentralfrankreich ein Schloss zimmerten oder in der Steiermark eine Weltmaschine. Roger Buergel hat einen Narren gefressen an politisch Engagierten, die ihre Aktivitäten in Schaubilder von dezidierter Unverständlichkeit gießen. Und Gérard Régnier, der sich als Ausstellungseinrichter Jean Clair nennt, bedient sich gerne der Gesichtsfeldforscher speziell des 19. Jahrhunderts, bei denen das Interesse am Physiognomischen bei den anderen schnell in die Pathologie bei einem selbst umschlägt. Nun hat Clair sie wieder versammelt, Duchenne de Boulogne zum Beispiel, der den Leuten elektrische Schläge an der Kopfmuskulatur verpasste, dass die Züge nur so entgleisten, oder Géricault, dessen Faible für die Insassen der gerade im Entstehen begriffenen Irrenhäuser längst kanonisch geworden ist. Diesmal tragen sie bei zu jener Abteilung aus der alteuropäischen Lehre der Körpersäfte, die man mit dem längst kein Fremdwort mehr darstellenden Begriff "Melancholie" bezeichnet. "Genie und Wahnsinn im Okzident", so der Untertitel, will beweisen und kann es auch, dass das Kopf in die Hände Stützen nichts anderes darstellt als den lebenslangen Kampf gegen die Schwerkraft. Weil Clair nicht nur auf seinen Stammexponaten sitzt, die ihm gewissermaßen garantiert sind, sondern auch etwa mit den Berliner Sammlungen zusammenarbeitet, bekommt er die herausragendsten Aussellungsstücke. Friedrichs "Mönch am Meer" gibt sich also jetzt der Ausgesetztheit hin, Goya darf seinen Freund Jovellanos von der Aufklärung träumen lassen, und als Glanzlicht gibt es die wunderbare Büste eines sinnierend vor sich hin lächelnden Manns von der Hand Nikolaus Gerharts, entstanden Mitte des 15. Jahrhunderts, deren Epochalität etwa an der Pilgramkanzel im Stephansdom zu studieren ist. Und natürlich hat Clairs Melancholie-Präsentation - ähnlich wie beim Wiener "Wunderblock" von 1989 oder bei "L`ame au corps" 1994 ebenfalls im Grand Palais, das damals leider wegen herabfallender Fensterscheiben allzu schnell geschlossen werden musste - wieder das Zeug zur Ausstellung des Jahres. Wenn nicht des Jahrzehnts. Bis 16. Jänner noch in Paris. Ab 16. Februar 2006 dann in Berlin.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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Melancholie - Genie und Wahnsinn im Abendland
13.10.2005 - 16.01.2006

Galeries nationales du Grand Palais
75008 Paris, 3, avenue du Général-Eisenhower
Tel: +33 1 44 13 17 17
http://www.rmn.fr/galeriesnationalesdugrandpalais
Öffnungszeiten: Mi-Mo 10-20, Mi 10-22 h


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