
Andrea Winklbauer,
Süchte, Leidenschaften und Konflikte
"Man muss lernen, dass es keine Antworten gibt", wird der junge Justin gegen Ende von "Thumbsucker" erfahren. Doch bis es zur Mitteilung dieser ultimativen Weisheit kommt, hat er schon einiges hinter sich auf seinem Weg zum Erwachsenwerden. Er ist mit seinen 17 Jahren immer noch Daumenlutscher, introvertiert und schwierig, blüht unter Medikamenteneinfluss kurzzeitig zum gnadenlosen Star des Debattierklubs auf und versumpert kurz danach als Doperaucher. Zur ersten Enttäuschung in der Liebe kommt die Erkenntnis, dass auch die Erwachsenen keinen Schimmer haben, wo es im Leben eigentlich lang geht. Die Eltern verstehen sich zwar auch nach langer Ehe gut, aber besonders Justins Mutter, gespielt von der wunderbaren Tilda Swinton, pflegt ihre geheimen Sehnsüchte und Justin fürchtet schon möglichen Verrat... Erneut ist es ein ehemaliger Regisseur von Musikvideos, Mike Mills, dem ein durch und durch origineller Film gelungen ist. Jenseits der üblichen Teenie-Komödien inszenierte er "Thumbsucker" als Parabel auf das Leben als Versuchsmodell.
Ein anderer Beitrag ist eher durch sein aufwendiges Scheitern interessant. "U-Carmen eKhayelitsha", eine Art "Carmen Jones"-Neuauflage (Otto Preminger, 1954), ist ein Bildungsbürgertrip nach Südafrika. Zwar ist das Ausgangsmaterial, die Oper "Carmen", adaptiert und der Film vollständig in der Landessprache Xhosa inszeniert, die Musik von Georges Bizet und die Bilder aus den südafrikanischen Townships stehen aber in einem starken Kontrast zueinander, nicht so sehr wegen der unleugbaren kulturellen Unterschiede, sondern weil hier eine historische Kunstform mit einer heutigen Realität kollidiert. Das hat durchaus seine reizvollen Momente. Doch wann immer Bizet kurz durch afrikanische Musik abgelöst wird, muss man sich fragen: Warum diese historische Krücke? Warum nicht Prosper Mérimées Geschichte um Liebe, Verrat und Mord einfach mit Musik aus Südafrika neu orchestrieren? Diese Filmbilder und die große Opernpose hätten einander nicht gebraucht.
Wer als Märtyrer stirbt, wird sofort ins Paradies eingehen. Das glauben Said und Khaled, zwei junge Palästinenser aus Nablus, die eben ausgewählt wurden, am nächsten Tag ein Selbstmordattentat in Tel Aviv auszuführen. Ihre letzte Nacht verbringen sie mit ihren Familien, die natürlich nichts erfahren dürfen. "Paradise Now" handelt von Konflikten ohne Lösung. Da ist der Nahostkonflikt, aus der Perspektive der Unterdrückten erzählt. Da sind interne Konflikte: Man bekommt mit, dass Saids Vater als Kollaborateur hingerichtet worden ist. Und da sind die ganz persönlichen, inneren Konflikte, die zuerst Said und dann Khaled die Sinnhaftigkeit ihres Vorhabens hinterfragen lassen. Das Gute an diesem Film ist, dass man viel über die Motive der Handelnden erfährt und - mehr noch - diese Motive zur Diskussion gestellt sind. Es geht um einen Zustand, der ein unhaltbarer ist. Kein Pathos, keine Tränenmaschine wollen die Sympathie des Zusehers erobern. Im Darstellen des Terrors plädiert Regisseur Hany Abu-Assad für Gewaltlosigkeit. Paradise when?
Thumbsucker
USA 2005, 96 min.
Regie: Mike Mills
Mit: Lou Taylor Pucci, Tilda Swinton, Vincent d?Onofrio, Keanu Reeves u.a.
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U-Carmen eKhayelitsha
Südafrika, 2004, 120 min
Regie: Mark Dornford-May
Mit: Pauline Malefane, Andile Tshoni, Zweilungile Sidloyi, Lungelwa Blou, Andiswa Kedama
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Paradise Now
NL/F/D 2005, 90 min
Regie: Hany Abu-Assad
Mit: Kais Nashef, Ali Suliman, Lubna Azabal, Amer Hlehel, Hiam Abbass
Link zum Film
www.berlinale.de
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